Geschichten

7
Jul
2013

Mit den Waffen einer Frau

Männer und Frauen sind gleichberechtigt, so steht es im Deutschen Grundgesetz - waren jedoch nie gleichverpflichtet in Sachen Bundeswehr. Die Allgemeine Wehrpflicht ist ohnehin abgeschafft. Gleichwohl gibt es genügend Frauen, die den Soldatinnenberuf freiwillig anstreben, was ihnen seit 2001 offen steht. Doch auch in früheren Zeiten fanden Frauen, wenn man Legenden Glauben schenkt, Methoden der Kriegsführung. Nicht nur als Männer verkleidet, nein - sondern mit den traditionellen, einzigen "Waffen", die den Frauen damals zur Verfügung standen: Den Erzeugnissen von Haus und Küche. Und zwar von Bayern bis zur Waterkant: So soll im 13. Jahrhundert eine Deggendorfer Hausfrau die vor der Stadtmauer lagernden Böhmen mit dem beherzten Wurf eines Knödels in die Flucht getrieben haben. Dies lag allerdings weniger daran, dass der Knödel härter als Kanonenkugeln gewesen wäre - der vom Knödel getroffene Kundschafter berichtete seinem König Ottokar vielmehr, die Deggendorfer hätten nach wochenlanger Belagerung noch immer so viel Essen, dass sie nicht zu bezwingen seien. Ob wahr oder nicht, die Begebenheit ist so berühmt, dass die Knödelwerferin in der Deggendorfer Zeitung eine eigene Kolumne hatte (ich weiß nicht mal, ob's die noch gibt) und eine Skulptur in der Altstadt heute noch an sie erinnert.- In Friesland hingegen sollen die Frauen dänischen Belagerern mit heißer Grütze beigekommen sein. Offenbar erfolgreich.

Sympathisch finde ich dies allemal - versprechen Knödel und Grütze doch weniger ernsthafte Verletzungen als Splittergranaten oder Atombomben. Dauerhaften Frieden verspräche ich mir allerdings nur, wenn die Feinde an einem Tisch zusammenkämen, um gemeinsam zu speisen statt zu kämpfen. Kochen können schließlich beide Geschlechter - heutzutage.
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8
Sep
2012

Fusseln pflücken

Ich habe Sponsorinnen: Drei Schätze schenkten mir zur Ateliereröffnung einen Gutschein, diese Woche stieg ich damit in die Katakomben des Kaufhofs hinab und näherte mich zielstrebig dem Stapel mit den Kuscheldecken. Angesichts des bunten Fliesenmosaiks in meinem Atelier und des aus unserem Kellerdepot zusammengestellten Mobiliars - zwei Rattanstühle, zwei Klappstühle in hellgelb und hellorange - hatte ich die Qual der Farbenwahl. Schließlich entschied ich mich für den mit weiß-blau gestreiftem Leinen bespannten Liegestuhl als Leitmotiv und wählte eine weiße und eine blaue Decke. Nun hängen die beiden draußen auf der Leine; die blaue hat weiße Fusseln. Die weiße aber keine blauen! Woher kommen also die weißen Flusen? Keine Ahnung - vielleicht hatte die blaue Decke das Bedürfnis, sich an ihre Schwester farblich anzunähern... aber ich werde die weißen Fusseln wohl entfernen.
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3
Apr
2011

Neues vom Freitagsleser

Der Freitagsleser würdigt das Weltgeschehen mit keiner Miene. Ob Atomkatastrophe in Japan oder Kampfeinsatz in Libyen, er sitzt immer an derselben Stelle mit seinem Wälzer. Immer Anna Karenina. Selbst die Oma hat ihre Gala gegen die BILD getauscht, in der sie nun stirnrunzelnd blättert und darüber sogar ihren Kaffee vergisst. Aber er interessiert sich nur für sein Buch.

Ich beobachte die Leute, wie sie um die Tische mit den Bestsellern schleichen. Frauenromane oder so genannte Sachbücher von der Spiegel-Bestseller-Liste. Bei so manchem Buch denke ich, da hätte doch jeder drauf kommen können. Sogar ich. Aber wer würde mich schon veröffentlichen – schließlich bin ich kein ZEIT-Redakteur, sondern nur eine qualifizierte Hauptschülerin. Damit kann ich nicht mal Buchhändlerin werden. Senk ju for not hiring me…

Neulich war Anna Karenina plötzlich weg. Ausverkauft, einfach so. Man stelle sich vor: Ein über hundert Jahre altes Buch. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir nicht viele Exemplare davon auf Lager haben. Jetzt sage ich schon wir. Früher oder später wird der Geschäftsführer bei mir einen Kaffee trinken, und dann frage ich ihn nach einer Lehrstelle… Ich lese selten ein Buch hier aus dem Laden; ich würde mich nicht trauen, mich einfach eine Stunde lang damit in einen Sessel zu setzen wie der Freitagsleser – nicht mal, wenn ich gerade frei habe. Stattdessen gehe ich in die Bibliothek. Anne lacht mich aus. "Du mit deinen Büchern", sagt sie. Mal wieder typisch. Was soll ich denn sonst tun – mir die Nägel lackieren? Anne verbringt Stunden damit, wenn sie an der Rezeption sitzt und auf Gäste wartet. Manchmal kann sie nicht ans Telefon gehen, weil sie zuerst noch ihre zarten Finger wedeln muss. Dann schimpft Mama sogar mit ihr. Unsere Eltern haben eine Pension, wo ich früher auch gearbeitet habe. Als ich dann keine Lehrstelle fand, wollten sie, dass ich das vollzeit mache. Gegen einen Hungerlohn. Aber nicht mit mir, habe ich gesagt und mir den Job in der Buchhandlung gesucht. Die Bezahlung ist nicht viel besser, aber immerhin habe ich Anspruch auf Urlaub und wenn ich krank werde, bekomme ich trotzdem mein Geld. Nicht dass ich so oft krank wäre, aber es geht schließlich ums Prinzip. Anne jobbt nur an der Rezeption, wenn sie Lust dazu hat, und kassiert ein fürstliches Taschengeld. Wenn sie keine Lust hat, sagt sie, sie muss lernen. Sie ist genauso alt wie ich, aber sie geht noch zur Schule – auf's Gymnasium. Nein, Anne und ich sind keine Zwillinge. Anne ist meine Pflegeschwester. Und damit sie auch nie das Gefühl hat, dass meine Eltern mich lieber mögen als sie, und weil sie ja so eine schwere Kindheit hatte, behandeln meine Eltern sie besonders gut.
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12
Mrz
2011

Der Freitagsleser

Er sieht nicht aus wie einer, der kein Geld hat. Trotzdem kommt er jeden Freitag und liest in demselben Buch, das er nie kauft. Außer mir scheint das niemandem aufzufallen. Mir persönlich wäre das zu wenig, ich könnte es nicht aushalten, in einem Buch nur einmal in der Woche zu lesen (es sei denn, ich läse es gleich in einem Rutsch). Ich verschlinge Bücher. Vielleicht geht er an anderen Tagen ja auch woanders hin, aber dann müsste er schneller fertig sein. Selbst mit so einem Wälzer wie Anna Karenina, den er gerade in der Hand hält. Vielleicht ist er auch ein Langsamleser, oder er liest überhaupt nicht, sondern beobachtet in Wirklichkeit die Leute. Davon wüsste ich allerdings, denn heimlich beobachte ich ihn. Vielleicht ist er selber Schriftsteller, ein Unveröffentlichter. Davon gibt es jede Menge. Das kriegt man unweigerlich mit, wenn man in einer Buchhandlung arbeitet. Und wenn es nur hinter der Kaffeetheke ist. Warum ich glaube, dass er Geld hat? Es ist die nachlässige Art, mit der er an der Kasse seine Karte über den Tisch schiebt. Er zahlt immer mit Karte. EC, nicht Kredit. Trotzdem. Er hat Geld, ich weiß es. Stundenlang sitzt er da und liest, und dann nimmt er einfach ein paar Bücher vom Stapel, die er vorher nicht mal angeschaut hat, und trägt sie zur Kasse. Ist doch komisch, sowas, oder? Nur Kaffeetrinken tut er nie, deshalb sehe ich ihn meistens nur von Weitem.
Anne sagt, ich habe zu viel Phantasie. Weil ich den Leuten immer gleich was andichte. Dabei stimmt das gar nicht. Ich dichte nur Leuten etwas an, die ich interessant finde. Manchmal bin ich enttäuscht, wenn ich erfahre, wie es wirklich ist. Dass der große, dunkle Fremde mit dem eleganten Mantel ein einheimischer Sparkassenangestellter ist und nicht etwa ein saudischer Prinz inkognito. Oder dass die kleine, hutzelige Oma mit dem Apfelgesicht nicht in der Kinderbuchabteilung verschwindet, um liebevoll Lesestoff für ihre Enkel auszusuchen, sondern sich eine Gala greift und schnurstracks herüberkommt. Die blättert sie dann bei einer Tasse Kaffee durch und bringt sie anschließend leicht angefleddert zum Zeitschriftenständer zurück. Die hat wirklich kein Geld, denke ich mir. Manchmal schenke ich ihr nochmal nach; sie trinkt eh nur Filterkaffee, da geht das. Ich möchte zu gern wissen, was der Freitagsleser gerne trinkt.
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6
Okt
2010

Die Laute wartet

Die Laute eng an den Körper gepresst und tausend Fragen im Gepäck, sitzt Ángel höflich nickend da und erträgt geduldig den Wortschwall, der, seit Minuten schon über ihm ausgegossen, ihm Gehirn und Gehör verklebt. Die Frau gegenüber – mittelgroß, mittelgewichtig, mittelalt – spricht mittelmäßiges Spanisch mit starkem deutschem Akzent. Ließe sie ihn einmal zu Wort kommen, würde sie merken, dass er langsames und wohlklingendes, für sie gut verständliches Spanisch spricht. Doch hier im Wartebereich des Frankfurter Flughafens gibt es kein Entrinnen. Sein Weiterflug nach München verzögert sich; es ist unwahrscheinlich, dass er heute noch dort ankommt. Ein befreundeter Musiker hat ihn eingeladen, aus Chile nach Deutschland zu kommen und Europäische Musik zu spielen. Ein gemeinsames Konzert in den wirklich stillen Tagen zwischen Weihnachten und dem Jahresende, in einer Kirche, vielleicht sogar eine Aufnahme im kleinen Studio des Freundes. Die Frau fährt fort, über das unbekannte Land zu referieren, das er nur durch Erzählungen seiner Musikerkollegen kennt.
In Chile ist Ángel ein recht bekannter Klassikinterpret, hier in Deutschland halten sie ihn für einen Straßenmusiker. Die Frau erzählt von den südamerikanischen Panflötenspielern in deutschen Fußgängerzonen, und wie toll sie die Folklore aus den Anden findet, besonders jetzt zur Weihnachtszeit. Ángel hat zu Hause nicht nur die Laute studiert. Er hat sich viel mit Sprachen beschäftigt, hat gehofft, sie eines Tages in ihren Ursprungsländern anwenden zu können. Vielleicht wird er sich wirklich als Straßenmusiker verdingen, in Edinburgh, Venedig oder Paris. Er steht auf und sagt in fehlerfreiem Deutsch: "Entschuldigen Sie vielmals, aber ich muss zur Toilette."
Dort wird er sich einschließen und vielleicht ein wenig auf der Laute spielen.

entstanden im Workshop Schreiben aus dem Unbewussten, Wiener Schreibpädagogik, 13.12.2009
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25
Aug
2010

Ria Racheengel

Die Chefsekretärin reichte Ria ihre Papiere und umarmte sie spontan. Vermutlich war Renate die einzige, die Rias Kündigung bedauerte. "Danke", murmelte Ria. Nur eins wollte sie noch wissen. "Stimmt es, dass Alexander meine Baustelle in der Südstadt übernommen hat?" Renate kicherte. "Oh ja. Er hat sie immer noch nicht im Griff. Der Chef ist stinksauer." Ria nickte zufrieden. Nach ihrer Kündigung hatte man sie sofort freigestellt, und niemand war an einer ordentlichen Übergabe interessiert gewesen. Am wenigsten sie selbst. Sollten sie doch sehen, wie sie ohne sie zurechtkamen. Als sie auf den Flur hinaus trat, meinte sie im Rücken Alexanders Blick zu spüren. Genau wie an dem Abend in Renates Garten.
Alexander, gut zehn Jahre älter als sie und die rechte Hand des Chefs. Er hatte sie eingearbeitet. Ria kam frisch von der Hochschule und war beeindruckt von seinem Wissen und seiner Souveränität. Außerdem hielt er Krämer in Schach, einen Techniker, der ihnen beiden zuarbeiten sollte. Krämer war ein Typ mit einem Lachen, das sie erschreckte. Wie anders dagegen das Lächeln, mit dem Alexander geduldig ihre Fragen beantwortete. "Du machst dich gut", sagte er einmal zu ihr. Zu ihrem Ärger wurde Ria rot. Auf der Grillparty von Renate, der Sekretärin, passierte es dann. Ria war aufgestanden, um sich im Garten die Beine zu vertreten, als er plötzlich neben ihr auftauchte. Er sagte nichts, schaute sie nur an. Er hatte dunkle Augen. Alles an Alexander war dunkel.
"Was ist?", fragte Ria irritiert. Da nahm er eine ihrer feinen, blonden Haarsträhnen und ließ sie langsam durch seine Finger gleiten.
"Engelshaar", sagte er.
Später, in ihrem Einzimmerappartement, nannte er sie selbst einen Engel.
"Ich schwebe ja auch wie ein Engel", lächelte Ria, "auf einer Wolke." Am Morgen fuhren sie auf verschiedenen Wegen zur Arbeit.
Zunächst genoss Ria die Heimlichkeit, es war wie ein aufregendes Spiel. Aber je länger ihre Beziehung zu Alexander dauerte, desto schwerer fiel es ihr, die Maske im Büro aufrecht zu erhalten.
"Wollen wir den anderen nicht endlich verraten, dass wir zusammen sind?", fragte sie ihn eines Abends. Sie lagen zusammen im Bett, Ria eng in Alexanders Arm gekuschelt.
"Wozu?", fragte er.
"Weil ich dich liebe! Manchmal denke ich, es sieht mir sowieso jeder an."
"Unsinn." Er zog sie fester zu sich heran und küsste sie sprachlos.
Dann bekam Alexander diese Großbaustelle in Sachsen, und Ria hörte länger nichts von ihm. Bestimmt arbeitete er wie ein Tier. Erst am Tag vor dem Betriebsurlaub erwischte Ria ihn allein im Büro. Als sie ihn auf den gemeinsamen Urlaub bei ihren Eltern ansprach, schüttelte Alexander den Kopf: "Du, sei mir nicht böse – aber nach der stressigen Zeit brauche ich ein paar Tage für mich. Fahr du doch schon mal allein." Ria versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. "Ja, natürlich... aber du kommst doch nach?" Er nickte unbestimmt. "Ich ruf dich an", sagte er, schon halb auf dem Weg zur Tür, "genieß den Sommer!"
Er rief nicht an, und nach dem Betriebsurlaub schien er genauso beschäftigt wie zuvor, bis sie ihm schließlich auf dem Weg zur Bauleiterbesprechung begegnete. Am liebsten hätte Ria ihn zur Rede gestellt. Stattdessen fragte er sie sofort nach der Zahlung, die sie einem schlampigen Subunternehmer verweigert hatte.
"Ich habe ihm gesagt, er kriegt sein Geld nächste Woche", erklärte Alexander. Und drängte sich vor Ria ins Besprechungszimmer, wo er sich ruhig eine Tasse Kaffee einschenkte. Ria folgte ihm und blieb hinter ihm stehen, die Fäuste in die Taille gestemmt. "Das ist ja wohl die Höhe! Wie kommst du dazu, dich in meine Abrechnung einzumischen?"
Gelassen rührte er Milch in seinen Kaffeebecher, bevor er sich zu ihr umdrehte. "Ich arbeite dich ein – schon vergessen? Jetzt sei doch nicht so empfindlich!"
"Ich bin nicht empfindlich – du fällst mir in den Rücken!"
"Ach, du bist doch nur sauer, weil wir nicht mehr miteinander..."
Keiner sagte ein Wort. Alle schauten Ria an, als stünde das, was Alexander nicht ausgesprochen hatte, auf ihrer Stirn geschrieben. Ria spürte die Hitze auf ihrem Gesicht, ihre Arme sanken herab. Alexander sah erschrocken aus, während Krämers Mundwinkel spöttisch zuckten. Ria stieß rückwärts gegen die Tür, machte kehrt und stolperte hinaus.
Am nächsten Tag musste Ria nach München, um einen erkrankten Kollegen zu vertreten. Von da an arbeitete sie fast täglich bis spät in die Nacht. Tagsüber in München, abends im Büro. Zum ersten Mal war sie völlig auf sich allein gestellt. Alexander war angeblich nur noch auf seiner Großbaustelle, die Kollegen wichen ihren Fragen aus, und Krämer grinste jedes Mal anzüglich, wenn er sie sah. Eines Abends kam er ohne anzuklopfen herein und setzte sich auf den Besucherstuhl.
"Du arbeitest ganz schön viel", stellte er fest. "Ich könnte dir helfen."
Völlig unvorbereitet spürte sie seine Hand auf ihrem Knie. Sie schrie auf. "Bitte lass das!" Als er nicht reagierte, schlug sie mit der Hand nach ihm, aber er packte ihr Handgelenk und zog sie samt Bürostuhl zu sich heran. Sein Knie glitt zwischen ihre Beine. In Panik stieß sie ihren Fuß mit dem Sicherheitsstiefel nach oben. Krämer klappte nach vorne und rang nach Luft, die Hände auf die empfindliche Stelle gepresst, an der die Stahlkappe ihn getroffen hatte.
"Du spinnst wohl total!", schrie sie und rannte aus der Tür. Sie sprang in ihr Auto und verriegelte die Türen von innen. Erst nach mehreren Versuchen schaffte sie es, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken.
Am nächsten Morgen um halb sieben betrat sie das Büro des Chefs. Er wandte den Blick nicht einmal vom Bildschirm ab. "Es ist mir sehr unangenehm", sagte sie, "aber gestern Abend ist mir etwas passiert, ich meine – Krämer hat mich... belästigt."
"Tja", sagte er und zuckte mit den Schultern. "Wie man sich bettet, so liegt man." Endlich schaute er sie an, über den Rand seiner Lesebrille hinweg, mit hochgezogenen Augenbrauen. Das Schweigen zwischen ihnen wuchs, und Ria kämpfte mit den Tränen. "Wenn Sie das so sehen… muss ich wohl kündigen", sagte sie.
Wochen später klapperten ihre Blockabsätze über den leeren Büroflur, jeder Schritt eine kleine, kalte Explosion. Sie passierte die geschlossenen Bürotüren, das menschenleere Foyer und schließlich die Eingangstür. Sie war mit dem Firmenwagen gekommen. Jetzt ging sie zur Bushaltestelle. Der Dreizehner würde sie direkt in die Südstadt bringen. Sie wusste nicht genau, welche Haltestelle es war, und stieg zu früh aus. Langsam ging sie durch die Wohnstraßen, hinter den Erkerfenstern die Feierabendpanoramen fremder Menschen. Hemdsärmelige Familienväter stellten ihre Aktentaschen in der Küche ab und küssten daheimgebliebene Ehefrauen, Kinder machten Hausaufgaben und Babys in Hochstühlen wurden aus Gläschen gefüttert. Erdrückende Idyllen überall. Die Oktobersonne versank langsam hinter den Häusern, während Ria überlegte, ob sie in der Stadt bleiben sollte. Sie war ja nur wegen ihres Jobs hergezogen und kannte so gut wie niemanden hier. Halbherzig hatte sie einige Bewerbungen geschrieben, aber sie wusste nicht, ob sie überhaupt noch in der Baubranche arbeiten wollte. Im Grunde konnte sie alles machen und überall hingehen. Wenn sie die Kraft dafür wiederfand. Im Moment fiel es ihr sogar schwer, die Straße entlang zu gehen.
Es war schon dunkel, als sie zu der Baustelle kam, die einmal ihre gewesen war: Ein seelenloses Quartier voller uniformer Reihenhäuser. Der Baucontainer stand nicht weit von der Straße entfernt. Wie sie erwartet hatte, brannte Licht darin. Und Alexanders Firmenwagen parkte davor. Ria ging näher heran. Durch das Fenster des Containers konnte sie seinen Kopf erkennen, konzentriert über den Schreibtisch gebeugt. Seit dem Morgen im Besprechungszimmer hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Ihr wurde übel vor Wut, und sie unterdrückte den Impuls, die Tür zum Container aufzureißen und ihn zur Rede zu stellen. Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Sie hob ein Zaunfeld aus dem Betonfuß und schlüpfte durch die Lücke auf das Gelände. Da war dieser helle Betonkreis im Asphalt, direkt neben der Fahrertür des Autos. Ria öffnete Kofferraum – wie immer hatte Mr. Sorglos nicht abgeschlossen. Darin lag der Kanalhaken. Sie wartete, bis ein LKW sich näherte. Dann schloss sie die Hände fest um das kühle Eisen und hob mit einem Ruck den Kanaldeckel heraus, genau wie Alexander es ihr gezeigt hatte. Das Scheppern ging im Verkehrslärm unter. Die dunkle Öffnung im Asphalt war kaum zu erkennen. Sie legte das Werkzeug in den Kofferraum zurück und schlüpfte wieder durch den Bauzaun, überquerte die Straße und wartete. Eine Stunde später schließlich ging das Licht im Baucontainer aus. Ria beobachtete, wie Alexander auf sein Auto zuging: Aufrecht, schlank und voller Elan, ein Gewinnertyp. Er hielt den Autoschlüssel in der Hand, den Arm ausgestreckt. Dann verschwand er. Lautlos. Kein Überraschungsschrei drang zu ihr herüber, und auch kein dumpfer Aufschlag. Sie konnte sich noch gut an die Pläne erinnern: Der Schacht war tief. Tief genug.
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22
Aug
2010

Unser Klavier

Unser Klavier hat es in sich. Besser noch wäre es zu sagen: unter sich. Unser Nachbar Herr Mutzke hat es jedenfalls hinter sich. Deshalb hat unser Umzug eigentlich gar keinen Sinn mehr. Herr Mutzke – oder Herr Motzke, wie wir ihn heimlich nennen – stand unten auf der Straße, als es passierte. Er wollte wohl sicher gehen, dass unser Klavier das Haus auch wirklich verlässt. Dabei spielt mein Mann gar nicht so schlecht. Für Elise, Alle meine Entchen und mein persönliches Lieblingsstück, den Flohwalzer. Ich finde, er hat sich über die Jahre wirklich gesteigert. Am liebsten spielte er sonntags nach dem Essen. Da mache ich immer den Abwasch. Er spielt, ich spüle und höre zu. Herr Motzke klopfte dann immer mit dem Besenstiel gegen die Wand. Er hatte ein ziemlich gutes Rhythmusgefühl, und mein Mann improvisierte gerne dazu. Bis Herr Motzke an unserer Wohnungstür klingelte, aber wir machten einfach nicht auf. Schließlich will man am Sonntag auch mal seine Ruhe. Und stellen Sie sich vor, eines Tages rief Herr Motzke die Polizei! Und dann kamen die Briefe. Erst von Herrn Motzke, dann von einem Anwalt und schließlich vom Vermieter, der uns kündigte. Die ganze Hausgemeinschaft hatte sich gegen uns verschworen. Wir fanden eine neue Wohnung. Am Umzugstag schlug jemand vor, das Klavier durch die breite Doppeltür auf den Balkon zu schieben und von dort aus abzuseilen. Dabei ist es dann auch passiert. Ein Knoten löste sich, das Klavier kippte unkontrolliert über das Geländer und zerbarst auf Herrn Motzke. Schade.

entstanden im Kurs Sprachinszenierungen, Wiener Schreibpädagogik, 27.03.2010
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16
Aug
2010

Friedbertas letzte Ruhe

Mit gebauschten Röcken stöckelte Friedberta auf das Rathaus zu, wo sie heute mit der goldenen Treuenadel ausgezeichnet werden sollte. Fünfzig Jahre Urlaub im Bayerischen Wald, in ein und derselben Pension, das machte ihr so schnell niemand nach! Sie hatte schon die Eltern und Großeltern ihrer jetzigen Pensionswirtin gekannt. Und den Großonkel des Bürgermeisters, der ihr gleich die Treuenadel an den Busen heften würde, sowie den Gründer der Glashütte, die heute nur noch ein Museum beherbergte, die ledige Mutter des Freundes eines Bekannten vom Vorgänger des heutigen Pächters des Restaurants im Grenzbahnhof und die Schwester der Erben des letzten Bewohners des Dorfes, das einst an der Stelle gelegen hatte, wo jetzt ein Trinkwasserspeicher war. Nicht zu vergessen die Eltern des Gründers der Bürgerinitiative, die sich nicht gegen die Talsperre hatte durchsetzen können. Friedberta hatte auch die Zeit erlebt, in der das Grüne Dach Europas noch grün gewesen war, genauso wie sie jetzt fast jeden Borkenkäfer mit Namen kannte und die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Waldbahn auswendig wusste. Drei viel zu kurze Wochen jedes Jahres gehörte Friedbertas Denken und Fühlen nur ihrem Urlaubsort. Vor allem ihr Fühlen. Voller Vorfreude eilte sie an dem kleinen Springbrunnen auf dem Rathausplatz vorbei – und blieb stehen. Wo war denn die kleine Brunnenfigur? Friedberta trat näher und warf einen Blick auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Sie sah ihr eigenes Gesicht wie damals, als sie eine junge Frau gewesen war. In ihrem ersten Sommer hier hatte sie den feschesten Burschen erobert und mit ihm auf dem Dorffest getanzt. Danach hatte er die Brunnenfigur nach Friedbertas Bild geschaffen. Als Friedberta im darauffolgenden Jahr zurück kehrte, war ihr Bursche weggezogen und hatte eine andere geheiratet. In einem Waldbauerndorf war damals kein Platz für einen Bildhauer, der Steinskulpturen schuf. Einzig die Brunnenfigur hatte all die Jahre überdauert, in denen Friedberta "ihrem" Dorf die Treue hielt. Doch wo war sie jetzt? Friedberta schürzte den Rock und stellte sich versuchshalber auf den Sockel, wandte das Gesicht zum Himmel und lächelte der Sonne zu, den Rock kess bis übers Knie gezogen, ganz wie die Steinskulptur.
In diesem Moment hörte Friedbertas Herz auf zu schlagen, und ihre schönen Erinnerungen erstarrten für immer zu Stein. Als der Bürgermeister auf den Rathausplatz trat, um nach der verspäteten Jubilarin Ausschau zu halten, wunderte er sich nur, wie frisch und neu die alte Brunnenfigur auf einmal aussah. Auch hatte er sie etwas kleiner in Erinnerung. So konnte man sich täuschen.

entstanden im Kurs Motivinszenierungen, Wiener Schreibpädagogik, 02.05.2010
876 mal gelesen

8
Aug
2010

Grundlos nah

Es gibt Menschen, die scheinen in dich hineinzusehen, dachte Margret. Bis in die Tiefen deiner Seele, in die du selbst noch nie bewusst hinab gestiegen bist. In Margrets Freude, erkannt zu werden, mischte sich Angst und auch ein bisschen Missmut: Wer war er, der sie so anschaute, als würde er sie schon ewig kennen? Sich erlaubte, alles auszusprechen? Er benannte ihre Eigenschaften, las ihre Gedanken, ihre Ängste. Margret wurde unsicher, rankte grundlos Dornen um seine Worte. Er kam zu nah. Weil er in ihr sehen konnte, was sie selbst nicht anzusehen wagte. Noch nicht. Sie fühlte sich etikettiert, eingeordnet und damit doch wieder wie eine von Vielen. Dennoch wollte sie es aushalten lernen; sie wollte, dass er sie sah - solange er behutsam genug mit dem Gesehenen umging.
815 mal gelesen

4
Aug
2010

Die Meisterin aus Wudang

Zu beiden Seiten der dunklen Gasse ragten jahrhundertealte, verwitterte Mauern auf, die noch keinem Stadtsanierer in die Quere gekommen waren. Miriam wich einem Hundehaufen aus und blieb vor einer Art Scheunentor stehen. Sie drückte gegen das raue Holz und schlüpfte in die zugige Durchfahrt. Sie hätte den Lichtschalter betätigen können, aber Miriam hatte gute Augen. Eulenaugen, die auch im Dunkeln noch ausreichend sahen. Sie war schon so auf die Welt gekommen, hatte aber nie jemandem davon erzählt. Erst Meister Fu hatte sie aufgeklärt, dass sie damit über eine außergewöhnliche Gabe verfügte, die durch nichts und niemanden zu trainieren war. Sie hoffte, die Meisterin würde es entsprechend würdigen. Denn was nützte einem schon die beste Technik, wenn man im Dunkeln aufgeschmissen war?
Sie überquerte den Innenhof und gelangte durch eine zweite Tür in das modrig riechende Treppenhaus. In den letzten drei Jahren war sie zweimal wöchentlich diese knarzenden Stufen hinaufgestiegen, um sich von Meister Fu unterweisen zu lassen. Sie liebte Meister Fu. Er war mindestens hundert Jahre alt, streng und gütig – und der witzigste Lehrer, den man sich vorstellen konnte.
Durch die Ritze unter der Tür fiel warmes Licht. Voller Erwartung drückte Miriam die Türklinke hinunter und trat ein. Meister Fus Unterrichtsraum lag unter dem Dach; das dunkel glänzende Holz des Fußbodens war vom jahrhundertelangen Gebrauch blank gescheuert und uneben. An manchen Stellen knarzte es genauso wie die Stufen im Treppenhaus. Zwei Stützen mitten im Raum trugen die Firstpfette und standen mitunter beim Üben im Weg. Davon abgesehen, störte nichts die Konzentration, denn der Raum war leer, die Wände schmucklos und die drei Fenster auf der Giebelseite nackt. Vor dem mittleren Fenster stand Meister Fu, wie immer in seinen zerschlissenen Hosen und dem weiten, löchrigen Hemd. Nur seinen Gürtel mit den chinesischen Schriftzeichen trug er heute als Stirnband, wodurch das Hemd noch mehr um seine dürre Gestalt herumschlotterte als sonst. Er sah unglaublich gebrechlich aus, bediente jedoch mit sicheren Händen den Discman auf dem Fensterbrett. Leise Meditationsmusik sickerte aus den kleinen Lautsprecherboxen. Ihre sieben Mitschüler befanden sich, über den Raum verteilt, in verschiedenen Stadien des Umkleidens.
"Ist sie schon da?", raunte sie Klaus zu, während sie ihre Stiefel auszog. Er nestelte gerade an seinem Gürtel und wies nur stumm mit dem Kinn auf die Stelle neben dem Fenster. Dort sah sie einen Schwertständer, mit drei unterschiedlichen Waffen bestückt: Schwert, Dolch und Stock. Daneben lehnte ein zusammengefalteter Fächer, dessen Rippen mit Seide bespannt waren und am Ende in tödlichen Stahlspitzen ausliefen – das übliche Handwerkszeug der Wudangkämpferinnen.
Miriam schluckte, als sie das Schwert sah. Es glänzte silbrig, war wunderschön – und scharf. Eine Art elektrisches Summen ging von ihm aus, als stünde sie unter einer Hochspannungsleitung. Sie musste es einfach anfassen. Der mit hunderten winziger Edelsteine verzierte Griff lag gut in der Hand, sein Schwerpunkt war perfekt ausbalanciert. Trotzdem wog die Waffe kaum schwerer als ihr eigenes Holzschwert, fühlte sich an wie eine natürliche Verlängerung des Armes. Miriam probierte ein paar kleine, vorsichtige Bewegungen, gebannt vom Anblick der Ehrfurcht gebietenden Waffe.
Dann veränderte sich die Energie um sie herum, als würde sie von einer unbekannten Person beobachtet. Und richtig, gleich darauf traf eine leise, tiefe Frauenstimme sie hart in den Rücken: "Du willst also gegen mich antreten?" Beinahe hätte Miriam das Schwert fallen lassen. Wie war die Fremde nur hereingekommen? Miriam hatte keine Schritte gehört.
"Gib mir dein Schwert."
Miriam drehte sich um und streckte die Waffe von sich, die Schneide abgewandt. Sie blickte in ein Paar kleiner, tiefschwarzer Augen in einem alterslos erscheinenden Gesicht. Die Frau trug einen Anzug aus roter Rohseide; sie war mindestens einen Kopf kleiner als Miriam. Trotzdem wirkte es, als blicke sie von einem hohen Berg herab. Vor Miriam stand die Meisterin aus Wudang.
"Nicht dieses, du Dummkopf", sagte sie spöttisch, "dein eigenes, das du mitgebracht hast. Oder willst du, dass ich dich aus Versehen entzwei schneide?"
Miriam ließ ihre längliche Stofftasche von der Schulter gleiten und reichte sie der Meisterin. Beschämt schaute sie zu, wie die zierliche Frau das hölzerne Übungsschwert herauszog und dabei ein feines Lächeln aufsetzte. "Schön", sagte sie und ließ die Hand über das dunkel gemaserte Holz gleiten, aber es lag mehr Spott als Anerkennung in ihrer Stimme. Meister Fu warf Miriam einen eindringlichen Blick zu. Sie zwang sich, ihren Geist leer zu machen. Sie durfte sich nicht provozieren lassen oder gar zornig werden. Stattdessen setzte sie ihr schönstes inneres Lächeln auf, verband sich mit Erde und Himmel und sagte: "Ich bin bereit, Meisterin."
Sie begannen mit der Form, erst langsam, dann immer schneller werdend - vor, zurück, rechts, links - mehr Partnerinnen als Gegnerinnen. Miriams Brust weitete sich wie gewöhnlich, wenn sie übte. Ihr Atem vertiefte sich, und sie fühlte sich sicher. Doch dann landete die Meisterin mit einem weiten Ausfallschritt hinter ihr und griff, Miriam wusste nicht wie, nach ihrer Schwerthand. "Deine Haare sind viel zu lang", lachte sie. Im nächsten Moment spürte Miriam ein leichtes Ziehen an ihrem Hinterkopf. Ihr dicker, rotbrauner Zopf fiel mit einem leisen "Plopp" zu Boden, abgeschnitten von dem Schwert, das sie selbst in der Hand hielt. Es war zum Heulen. Wiederum bezwang sie Zorn und Angst und verlangsamte im Geist die Zeit, bis der Raum um sie herum weit wurde. Sie wirbelte herum zu einem Schlag auf das Knie ihrer Gegnerin, die ihn wie erwartet mühelos abwehrte und begann, Miriam systematisch in die Ecke zu treiben. Mit immer neuen, überraschenden Schlägen und Täuschungsmanövern ließ sie Miriam nicht einmal auf Schwertlänge an sich herankommen. Im Vorübertanzen erhaschte sie einen kurzen Blick auf Meister Fus Gesicht. Es war nicht gelassen wie sonst, sondern spiegelte ungewohnte Anspannung. Die Sorge, ihn heute Abend zu enttäuschen, machte Miriam traurig.
Der Kampfschrei ihrer Gegnerin fegte jedoch alle Gedanken aus ihrem Kopf. Miriam schaffte es gerade noch, dem zischenden Holzschwert auszuweichen und die Frau aus Wudang die unendliche Leere des Nichts spüren zu lassen.
Plötzlich wurde es dunkel, und die Meditationsmusik verstummte. Für einen Moment rührte sich niemand. Da bemerkte Miriam den Hauch eines Lichtscheins, der flackernd durch einen dunklen Vorhang auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes drang und ihr ermöglichte, sich zu orientieren. Mutig sprang sie nach vorne, schlitzte mit dem Schwert knapp am Gesicht der Meisterin vorbei und setzte Hieb um Hieb, tänzelte dabei vor und zurück, ließ das wunderbare Schwert effektvoll herumwirbeln und stieß immer wieder zu. Das, was von ihrem Haar noch übrig war, flog wild um ihr Gesicht und in ihre Augen. Sie setzte präzise Schlag um Schlag, Stich für Stich und stoppte die Schwertspitze jeweils nur Millimeter vom Körper der Meisterin entfernt. Gleichzeitig musste sie darauf achten, ihre Mitschüler nicht zu verletzen. Nur einmal, als sie mit dem Schwert ausholte, hörte sie ein leise schlitzendes Geräusch und ein erstauntes "Oh!". Da aber weder ein Schmerzenslaut zu hören war, noch ein Körper zu Boden ging, nahm sie an, dass sie nichts Wesentliches getroffen hatte.
Die Meisterin schien, wie die Mitschüler auch, im Dunkeln praktisch blind zu sein. Trotzdem landete sie immer wieder Treffer mit dem Schwert. Offenbar vermochte sie die Bewegungen ihrer hitzig kämpfenden Gegnerin zu fühlen. Einer der Hiebe traf Miriam an der Schläfe und ließ sie benommen zurücktaumeln. Wie in einem Strudel sank sie hinab bis auf den Grund der Stille.
Mitten hinein in die vervielfachte Sensibilität ihrer Sinne klatschte das Geräusch eines sich öffnenden Fächers. Die gefährlichen Stahlspitzen blitzten vor Miriam auf, bereit, ihre Haut zu zerschlitzen. Beinahe schon konnte sie den heißen Schmerz fühlen. Dann entlud sich all ihre Anspannung in einer letzten, blitzschnellen Drehung, und Miriam sprang, als flöge sie, langsam und in großer Höhe. Sie holte zu einem Fußkick aus, höher als alle, die ihr bisher gelungen waren. Ihre Ferse traf die linke Schulter der Meisterin. Miriam prallte an ihr ab wie ein Gummiball und blieb schließlich betäubt liegen, all ihrer Kräfte beraubt. Neben ihr ging mit einem Aufschrei die Meisterin zu Boden. Zuletzt landeten die Waffen, Fächer auf Stahlschwert auf Holzschwert. Dann war es still.
Miriam wartete, bis die Meisterin aufgestanden war, und erhob sich dann selbst auf die Knie, wobei jeder Knochen, jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. "Bitte unterweise mich, Meisterin." Nichts auf der Welt wünschte sie sich mehr. Eine Weile lang kniete sie dort in einer seltsamen Stimmung, halb Euphorie, halb Angst. Offenbar hatte Miriam sich als ernst zu nehmende Gegnerin erwiesen. Aber was, wenn sie die Meisterin gekränkt hatte, indem sie sie in Bedrängnis brachte? Andererseits musste eine Wudang-Kämpferin über Mut und Ehrlichkeit verfügen. Wie hätte sie sich überwältigen lassen können, ohne alles zu verraten, was Meister Fu ihr jemals beigebracht hatte – die heiligen Prinzipien der Kampfkunst?
Schließlich reichte ihr die Frau aus Wudang die Hand und half ihr auf.
"Sei meine Schülerin", sagte sie feierlich.
Miriam brach in Freudentränen aus, während ihre Mitschüler zu jubeln begannen. Es schien, als erwachten sie aus einer Starre, denn erst jetzt traute sich jemand, Meister Fus Streichhölzer zur Hand zu nehmen und die Kerze anzuzünden, die der Lehrer zum Meditieren benutzte. Schemenhaft tauchten die Umrisse der anderen Schüler auf. Einer schaute den anderen an – und alle lachten gleichzeitig los. Klaus stand in einer geblümten Unterhose da. Miriam hatte im Kampf aus Versehen seinen Gürtel durchtrennt. Nur sie selbst war betroffen.
Suchend sah sie sich nach Meister Fu um - dem Mann, dem sie ihr Können verdankte. Er war nirgends zu sehen. "Wo ist Fu?", fragte sie Klaus. "Er ist vorhin rausgegangen", meinte er, und Miriam rannte auf den Flur. "Meister Fu?" rief sie in das dunkle Treppenauge, "Meister Fu? Wo bist du?" Da hörte sie ein Geräusch, das von ganz unten zu kommen schien. Was wollte er dort unten, am Fuß der Treppe? War er gestürzt? Und warum hatte er ihr nicht wenigstens durch seine Gegenwart beigestanden, als sie um die Erfüllung ihres Wunschtraums kämpfte, ihre Aufnahme in die Kampfkunstschule von Wudang? Hatte er es nicht mit ansehen können, hatte sie das Schwert so schlecht geführt? Mit klopfendem Herzen rannte sie die dunkle Treppenflucht hinab, und als sie fast unten angekommen war, ging plötzlich das Licht wieder an. Meister Fu stand am Sicherungskasten und kicherte lautlos. "Meister Fu", rief Miriam, "ich habe gewonnen!"
"Ich weiß, Eulenauge, ich weiß." Er streckte seine pergamentenen Arme aus, und als Miriam auf ihn zuging, packte er ihre Hand und warf sie mühelos zu Boden. Immer noch kichernd, stieg er vor ihr die Treppe hinauf.
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