Im Auge der Betrachteten
Jedes Jahr im Oktober, November organisiere ich meine Gesundheitsvorsorge. Der Sommer und die Urlaubszeit sind vorüber, Arztpraxen und Büros wieder besetzt. Außerdem ist die dunkle Jahreszeit ideal, wenn mich der Augenarzt mit erweiterten Pupillen vor die Tür setzt. So wie gestern, nachdem ich versucht hatte, die Zeit im Wartezimmer als Wellnessanwendung zu sehen. Schließlich habe ich schon Feierabend, während die Mitarbeiterinnen in der Arztpraxis geschäftig hin und her wuseln. Zwischendurch werde ich zum Sehtest gerufen. Dabei muss ich ehrlich zu mir sein, denn die Buchstabenreihen kann ich nach all den Jahren schon auswendig. Neu hingegen ist das Gerät, mit dem meine Sehnerven tomografiert werden. Dann wieder Warten. Telefone klingeln, Türen öffnen und schließen sich, Stimmen, ein Timer piepst: Zeit für die nächste Ladung Pupillen-Auf. Es brennt kurz, ich schließe die Augen, die Brille zusammengeklappt in den Händen auf meinem Schoß. Ich atme. Denke nach. Meditiere. Darf hier sitzen, einfach so. Dann bin ich dran, im wahrsten Sinne des Wortes. Der Augenarzt, dem ich nun schon seit bald zehn Jahren vertraue, zeigt mir die Fotos aus dem Innern meines Auges. Ein Teil von mir, den ich nie selbst mit bloßen Augen sehen werde. Mein ungewöhnlicher Sehnerv, erstmals fotografiert, Vergleichsmaterial für die kommenden Jahre. Dann das Kontaktglas direkt auf dem Auge. Wie immer muss ich mich daran erinnern, das Atmen nicht zu vergessen, bis der ordnungsgemäße Zustand meiner Netzhaut festgestellt ist. Ein bisschen unangenehm ist es ja schon, das Ganze; Wellness stelle ich mir anders vor, doch die Netzhaut der Kurzsichtigen ist nun mal besonderen Beanspruchungen ausgesetzt. Mein Arzt sagt, er sei zufrieden - und ich erst! Mit meiner Augengesundheit und mit ihm. Mit leicht verschobenem Blick trete ich hinaus auf die dunkle Gasse.
radicchia - Mi, 3. Nov, 20:58
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