30
Jan
2011

Der Tod ist eine Motorhaube

Ein heller sonniger Vormittag, klar und kalt. Gut sichtbar radle ich bei Grün geradaus über die Ampelkreuzung. Ich höre die beschleunigte Drehzahl, während sich eine weiße Motorhaube in mein Blickfeld schiebt. Es ist nicht das erste Mal, dass die Zeit so still zu stehen scheint. Ich habe unendlich viel Zeit zum Nachdenken. Gleich hörst du die Englein singen. Kühl und sachlich berechnet mein Verstand, wo wir zusammentreffen werden, wo ich auf dem kalten Asphalt unter die Räder kommen werde. Heute ist der letzte Tag meines Lebens. Schade. Warum gerade jetzt? Hoffnung: Muss ein solcher Zusammenprall wirklich tödlich enden? Oder werde ich einfach nur auf das weiß lackierte Blech fallen, etwas benommen herunter rutschen und, bis auf ein paar Bremsspuren auf dem Ellbogen der Jacke, unversehrt auf die Füße kommen? Da ist kein Fahrer, kein Mensch - nur das Auto, das unglücklich meinen Weg kreuzt. Dann komme ich zu mir. Während ich all das denke, haben meine Hände kräftig die Bremsgriffe umklammert, die Füße den Boden erreicht. Das Auto hat auch gebremst. Ich kann nichts sehen hinter der Scheibe, aber das ist mir egal. Es wäre nicht das erste Mal, dass ein Mensch hinter dem Autosteuer mich beinahe umbringt und hinterher auch noch beschimpft. Ich bin davon gekommen. Das Ganze hat vermutlich nur eine oder zwei Sekunden gedauert. An der nächsten Ampel zittern mir die Arme.

Mir ist so etwas schon mehrfach passiert, und immer im Straßenverkehr. Ein Beinahe-Unfall, der mich einen Moment lang glauben ließ, mein letzte Sekunde schlüge gerade jetzt. Und dieses Gefühl, unendlich Zeit zu haben. Zeit zum Nachdenken: Hab ich was falsch gemacht? Ich bin doch noch zu jung zum Sterben, ich habe noch so Vieles vor. Zeit für Entscheidungen: Bremsen oder in die Pedale treten, um dem Hindernis zu entkommen? Zeit, das Auto näher kommen zu sehen, das vor mir abbiegt, Zeit, um in ein erschrockenes Gesicht zu sehen. Niemals empfand ich Angst, immer nur Verwunderung. Deshalb finde ich diesen Begriff, den Wikipedia mir für solche Erfahrungen anbietet, auch völlig unpassend: Fear-Death-Experience. Ich fürchtete nicht zu sterben. Ich fühlte nur Gewissheit, dass es geschehen würde. Danach Erleichterung: Ich bin dem Tod nochmal von der Haube gesprungen.
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