12
Mrz
2011

Der Freitagsleser

Er sieht nicht aus wie einer, der kein Geld hat. Trotzdem kommt er jeden Freitag und liest in demselben Buch, das er nie kauft. Außer mir scheint das niemandem aufzufallen. Mir persönlich wäre das zu wenig, ich könnte es nicht aushalten, in einem Buch nur einmal in der Woche zu lesen (es sei denn, ich läse es gleich in einem Rutsch). Ich verschlinge Bücher. Vielleicht geht er an anderen Tagen ja auch woanders hin, aber dann müsste er schneller fertig sein. Selbst mit so einem Wälzer wie Anna Karenina, den er gerade in der Hand hält. Vielleicht ist er auch ein Langsamleser, oder er liest überhaupt nicht, sondern beobachtet in Wirklichkeit die Leute. Davon wüsste ich allerdings, denn heimlich beobachte ich ihn. Vielleicht ist er selber Schriftsteller, ein Unveröffentlichter. Davon gibt es jede Menge. Das kriegt man unweigerlich mit, wenn man in einer Buchhandlung arbeitet. Und wenn es nur hinter der Kaffeetheke ist. Warum ich glaube, dass er Geld hat? Es ist die nachlässige Art, mit der er an der Kasse seine Karte über den Tisch schiebt. Er zahlt immer mit Karte. EC, nicht Kredit. Trotzdem. Er hat Geld, ich weiß es. Stundenlang sitzt er da und liest, und dann nimmt er einfach ein paar Bücher vom Stapel, die er vorher nicht mal angeschaut hat, und trägt sie zur Kasse. Ist doch komisch, sowas, oder? Nur Kaffeetrinken tut er nie, deshalb sehe ich ihn meistens nur von Weitem.
Anne sagt, ich habe zu viel Phantasie. Weil ich den Leuten immer gleich was andichte. Dabei stimmt das gar nicht. Ich dichte nur Leuten etwas an, die ich interessant finde. Manchmal bin ich enttäuscht, wenn ich erfahre, wie es wirklich ist. Dass der große, dunkle Fremde mit dem eleganten Mantel ein einheimischer Sparkassenangestellter ist und nicht etwa ein saudischer Prinz inkognito. Oder dass die kleine, hutzelige Oma mit dem Apfelgesicht nicht in der Kinderbuchabteilung verschwindet, um liebevoll Lesestoff für ihre Enkel auszusuchen, sondern sich eine Gala greift und schnurstracks herüberkommt. Die blättert sie dann bei einer Tasse Kaffee durch und bringt sie anschließend leicht angefleddert zum Zeitschriftenständer zurück. Die hat wirklich kein Geld, denke ich mir. Manchmal schenke ich ihr nochmal nach; sie trinkt eh nur Filterkaffee, da geht das. Ich möchte zu gern wissen, was der Freitagsleser gerne trinkt.
823 mal gelesen

Alltagsfreuden
Altlasten
Dichtung und Wahrheit
Essen und Trinken
Experimente
Geschichten
Haus- und Handarbeit
Menschen
mobil
music & movies
radicchia 2.0
Reisen
Selma
Stadt und Land
Über mich
Verdammte Technik
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren