5
Mai
2013

Über das Schuheputzen

Meine Mutter hat mir das Schuheputzen beigebracht. Auch wenn ich nicht von mir behaupten kann, dass mir diese lästige Pflicht Freude bereitete, gehört sie doch zu den wertvolleren lebenspraktischen Fähigkeiten. Schuhe säubern und trocknen lassen; eincremen, wieder trocknen lassen und beim Glattpolieren die Früchte der mühsamen Arbeit ernten. Zumindest dieser letzte Arbeitsgang ist mit einer gewissen Befriedigung verbunden: Es ist wieder mal geschafft, die Schuhe glänzen. Oft genug - wenn ich es wieder einmal lang hinausgezögert habe - staune ich über die Schönheit meines Schuhwerks. Und wie immer schwindet der Drang, mir Neues kaufen zu wollen: Das Alte war doch klug gewählt, ist haltbar und formschön - so lange es gut gepflegt ist.

Doch was, wenn findige Designer einem einen Strich durch die Rechnung machen? Der allseits in Mode gekommene Vintage-Chick zum Beispiel: Dinge, die wirken, als wären sie in Ehren gealtert. Jeans im Used-Look, Lederjacken die aussehen, als hätten sie schon ein Vierteljahrhundert auf dem brüchigen Buckel, den abgewetzten Ärmeln. Dinge, die einen Charakter vorspiegeln, den sie noch gar nicht erworben haben können.

Wie diese Winterstiefel von Mustang, die ich in einem winzigen Schuhladen am Fuße der Burgruine des kleinen, bezaubernden Ortes Kallmünz erwarb: Faltiges Leder mit einer staubig-verwitterten Oberfläche, das innere Bilder aufsteigen lässt von Cowboys, die tagelang durch menschenleeres Gebiet voranreiten, mit ihren tapferen Pferden durch Flussbetten preschen, dass das Wasser nur so aufspritzt. Mit Stiefeln an den Füßen, die sowohl dem Wasser als auch dem rauhen, sandigen Wind trotzen. Stiefel, die abends vor dem Lagerfeuer ausgezogen und getrocknet werden. Unverwüstliches Schuhwerk, existenzielles Bekleidungsstück in einer rauen Umgebung.

Was passiert nun, wenn man diesen Stiefeln mit Wasser, Seife und Schuhcreme zu Leibe rückt? Richtig: Am Ende glänzen sie, aber die Falten sind zum Glück immer noch da. Bleibt zu hoffen, dass sie durch Gebrauch, Vernachlässigung und Tausalz wieder jene wild-romantische, cowboymäßige Patina annehmen, die ihnen zusteht.
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