13
Aug
2010

Neu geschöpft

Ich freue mich jeden Tag auf die Post. Wie aufregend, wenn mir die Briefe aus dem vollen Briefkasten entgegen fallen. Doch allzu oft schreien mich die bunten Umschläge hauptsächlich an: Kauf mich! Kauf mich!! Am besten mit einem Erfüllen-Sie-sich-Ihre-Träume-Kredit. Oder es gibt was umsonst: Ihre Punkte bei Dingsbums, jetzt einlösen! Zehn Euro sparen und gewinnen... Enttäuschende Lockangebote, die meist ungeöffnet im Papiercontainer landen. Trotzdem erlebe ich jedes Mal einen Moment der Freude. Ein Werbebrief ist immerhin keine Rechnung, und ein leerer Briefkasten wäre noch enttäuschender. Doch dann denke ich an die vielen Bäume, die Energie, die in diesen Briefen steckt, Transportkosten, Erdölvorräte - Wahnsinn. Nicht zu vergessen meine eigene Energie und Zeit, die ich mit Sortieren und Wegwerfen verbringe. Doch dann und wann weckt die Papierflut eine Erinnerung an mein Auslandssemester in Dänemark. Ich wohnte in einem Studentenwohnheim, und jedes Appartement besaß eine eigene Tür direkt nach draußen. Manchmal lag ich noch im Bett, wenn ich laut den Metalldeckel über dem Briefkastenschlitz klappern hörte. Werbepost und Prospekte fielen direkt auf die Fußmatte im Eingang und bildeten dort ein buntes Häufchen. Eines Tages kam ich mit der Nachbarin am anderen Ende meines Stockwerks ins Gespräch. Sie hatte einen Namen, der überall in der Welt verbreitet ist. Dabei hätte sie bei ihrem Aussehen einen nordischen Namen haben müssen, wie Mette, Helle oder Thorid - eine Wikingerfrau mit rötlichem Flachshaar und der gesunden Ausstrahlung einer Seefahrerin.

Die Wikingerin zeigte mir ihr Büttenpapier, das wunderbar alt aussah; dicke Blätter mit unregelmäßigen Rändern. Es war wunderschön - und selbst gemacht! Die Wikingerin hatte die Papierberge von ihrem Fußabstreifer geerntet und in kleine Schnipsel zerrissen, die sie tagelang in Wasser einweichte. Dann schöpfte sie daraus ihr kunstvolles Papier. Zurück in Deutschland, bekam ich noch einen oder zwei Briefe von ihr auf eben diesem Büttenpapier, doch irgendwann riss der Kontakt ab. Ich habe mich des öfteren gefragt, was aus ihr geworden ist. Heute, ungefähr zwölf Jahre später, habe ich ihren Blog gefunden. Dort gibt es ein Foto von der Wikingerin, die dichten Flachshaare kurz und fransig geschnitten. Als ihr Berufsfeld nennt die Wikingerin Marketing, und natürlich schreibt sie auf Dänisch. Dennoch verstehe ich gleich, dass Papier sie immer noch begeistert. Zusammen mit einer Freundin hat sie ein Buch über Geschenkverpackungen herausgegeben, und sie arbeitet weiter an kleinen, papierenen Kostbarkeiten: Karten, ausgefallene Fotoalben, Papierblumen. Ihr jüngster Clou: Was man aus einem Muffinförmchen alles basteln kann...

So wie die Wikingerin aus der Werbepost buchstäblich etwas Neues schöpfte, legt mir das Leben jederzeit Material vor die Füße. Aus den Schnipseln meiner Begegnungen, Erlebnisse, Gedanken werden, nach einer unbestimmten Wartezeit, wieder neue Geschichten.
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