12
Nov
2010

Welcher Herr ist Kavalier?

Es liegt wohl in der Natur des (älter werdenden) Menschen, einen scheinbaren Verfall von Sitte und Anstand der nachfolgenden Generationen zu verbuchen – regelmäßig vergessend, dass man sich einst mit dem gleichen Vorwurf konfrontiert sah. Die Jugend will nichts mehr lernen, die Wissenschaft ist im Verfall, lässt Umberto Eco seinen Adson von Melk schon im 14. Jahrhundert behaupten. Und die Welt steht immer noch.

Zum Glück gibt und gab es ja die einschlägige Literatur, um der Jugend ein Mindestmaß an Wohlverhaltensregeln beizubiegen. 1953 beispielsweise erschien Rosemarie Schittenhelms Büchlein Von morgens bis abends, Das Taschenbuch für junge Mädchen. Frau Schittenhelm beginnt mit Morgengymnastik und fährt fort mit der Kosmetik: Der Lippenstift? Eigentlich hast Du ihn gar nicht nötig! Du bist jung und Deine natürlichen Farben sind so schön, daß künstliche Nachhilfe nur verderben kann. Da bin ich anderer Meinung: Junge Gesichter erstrahlen für mich fast immer unverbraucht und frisch, ganz gleich wie sie geschminkt sind. Sich auszuprobieren, den eigenen Stil zu finden gehört zum Erwachsenwerden – Irrwege eingeschlossen. Und guter Geschmack ist ja bekanntlich Geschmacksache, auch bei der Kleidung. Selbst wenn das Durchschnittsmädchen des Jahres 1953 mitunter nur einen Rock sein eigen nannte. Damals diente der eine Rock aus gutem Material in einer der Grundfarben als Basis für alle Gelegenheiten: Vormittags mit einem selbstgestrickten Pulli, nachmittags mit Blüschen, mit einer Taftbluse wird er zum Tanzkleidchen und mit einer gleichfarbigen oder dunkleren Ergänzung zum passenden Anzug fürs Theater. Heute ermöglichen uns Sweatshops in Fernost den textilen Überfluss – ein Fortschritt?
Nicht nur für junge Mädchen gedacht ist dagegen Ludwig Riedlers Benimm dich richtig - Kleine Anstandsfibel besonders für junge Menschen von 1955. Darin steht, was uns (Frauen) schon immer einmal interessierte: Welcher Herr ist Kavalier? - Der Mann ist verpflichtet, sich vor allem Damen gegenüber ritterlich zu benehmen. Eigentlich sind es ja nur kleine Aufmerksamkeiten, die von dir verlangt werden. Du läßt die Dame rechts gehen, öffnest ihr die Tür, läßt ihr den Vortritt, (...) bietest ihr immer den besseren Platz an, nimmst ihr schweres Gepäck ab, reichst ihr den Arm, um sie sicher durchs Verkehrsgewühl zu führen, nimmst im Gespräch auf ihre zarten Gefühle stets Rücksicht, benimmst dich immer höflich und zuvorkommend und läßt deine sonstigen rauhen Männersitten bzw. -unsitten zu Hause. Ja, wirklich nur lauter Kleinigkeiten, zu denen der Kavalier verpflichtet ist, und die die Frau zu einem unglaublich gebrechlichen Wesen degradieren. Doch so manche Kleinigkeit ergibt ihren Sinn, sofern beide Geschlechter sie beherzigen; auch als Frau bin ich in der Lage, einem nachfolgenden Herrn die Tür aufzuhalten und nicht etwa grob aufs Hirn klatschen zu lassen. Erblicke ich allerdings in meinem Manne den achtbaren Lebenskameraden, der [meine] Liebe und Opferbereitschaft verdient (...)? Gegenseitige Liebe und Lebenskameradschaft ja, aber ein Opfer will ich, bitteschön, nicht sein.
Da ziehe ich lieber mit Frau Schittenhelm Hinaus in die Ferne. Dieses Kapitel liest sich wie eine Anleitung zu meinem letzten Urlaub: Kursbuchlesen, Kofferpacken, Übernachtung in der Jugendherberge. Und bei Radreisen? Die Werkzeugtasche enthält hoffentlich Konus- und Zehnerschlüssel sowie vollständiges Flickzeug: Gummilösung, Schmirgelpapier zum Aufrauhen des Schlauches, Ventilgummi und ein paar ordentliche Flicken. Du kannst doch flicken?
Das liest sich doch schon eher wie eine Anleitung zum Selbständigsein.

Quellen:
Von morgens bis abends, Das Taschenbuch für junge Mädchen, Rosemarie Schittenhelm. Frankh'sche Verlagshandlung, Stuttgart 1953.
Benimm dich richtig, Ludwig Riedler. A. Ganghofer'sche Druck- und Verlagsanstalt, Ingolstadt 1955.
(beide vergriffen).
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