3
Apr
2011

Neues vom Freitagsleser

Der Freitagsleser würdigt das Weltgeschehen mit keiner Miene. Ob Atomkatastrophe in Japan oder Kampfeinsatz in Libyen, er sitzt immer an derselben Stelle mit seinem Wälzer. Immer Anna Karenina. Selbst die Oma hat ihre Gala gegen die BILD getauscht, in der sie nun stirnrunzelnd blättert und darüber sogar ihren Kaffee vergisst. Aber er interessiert sich nur für sein Buch.

Ich beobachte die Leute, wie sie um die Tische mit den Bestsellern schleichen. Frauenromane oder so genannte Sachbücher von der Spiegel-Bestseller-Liste. Bei so manchem Buch denke ich, da hätte doch jeder drauf kommen können. Sogar ich. Aber wer würde mich schon veröffentlichen – schließlich bin ich kein ZEIT-Redakteur, sondern nur eine qualifizierte Hauptschülerin. Damit kann ich nicht mal Buchhändlerin werden. Senk ju for not hiring me…

Neulich war Anna Karenina plötzlich weg. Ausverkauft, einfach so. Man stelle sich vor: Ein über hundert Jahre altes Buch. Ich kann es mir nur so erklären, dass wir nicht viele Exemplare davon auf Lager haben. Jetzt sage ich schon wir. Früher oder später wird der Geschäftsführer bei mir einen Kaffee trinken, und dann frage ich ihn nach einer Lehrstelle… Ich lese selten ein Buch hier aus dem Laden; ich würde mich nicht trauen, mich einfach eine Stunde lang damit in einen Sessel zu setzen wie der Freitagsleser – nicht mal, wenn ich gerade frei habe. Stattdessen gehe ich in die Bibliothek. Anne lacht mich aus. "Du mit deinen Büchern", sagt sie. Mal wieder typisch. Was soll ich denn sonst tun – mir die Nägel lackieren? Anne verbringt Stunden damit, wenn sie an der Rezeption sitzt und auf Gäste wartet. Manchmal kann sie nicht ans Telefon gehen, weil sie zuerst noch ihre zarten Finger wedeln muss. Dann schimpft Mama sogar mit ihr. Unsere Eltern haben eine Pension, wo ich früher auch gearbeitet habe. Als ich dann keine Lehrstelle fand, wollten sie, dass ich das vollzeit mache. Gegen einen Hungerlohn. Aber nicht mit mir, habe ich gesagt und mir den Job in der Buchhandlung gesucht. Die Bezahlung ist nicht viel besser, aber immerhin habe ich Anspruch auf Urlaub und wenn ich krank werde, bekomme ich trotzdem mein Geld. Nicht dass ich so oft krank wäre, aber es geht schließlich ums Prinzip. Anne jobbt nur an der Rezeption, wenn sie Lust dazu hat, und kassiert ein fürstliches Taschengeld. Wenn sie keine Lust hat, sagt sie, sie muss lernen. Sie ist genauso alt wie ich, aber sie geht noch zur Schule – auf's Gymnasium. Nein, Anne und ich sind keine Zwillinge. Anne ist meine Pflegeschwester. Und damit sie auch nie das Gefühl hat, dass meine Eltern mich lieber mögen als sie, und weil sie ja so eine schwere Kindheit hatte, behandeln meine Eltern sie besonders gut.
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