15
Apr
2011

TouchPadagogik

Heidi, Uli und Rudi, so hießen die Hauptfiguren in dem wohl wichtigsten Buch meines Lebens: Dem Buch, mit dem ich lesen lernte. Auf einer der ersten Seiten lümmelten die drei bäuchlings auf einer Wiese und baumelten mit den Beinen, neben jedem Kind ein Name - in Druckschrift. Die Namen waren schnell gemerkt. An diesem Tag kam ich ganz aufgeregt nach Hause: "Mama, Mama, ich kann lesen!", rief ich. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie lachte. Aber Lesen habe ich dann wirklich gelernt, und Schreiben auch. Dazu wechselten die Buchstaben ihre Form, ich nahm es hin.

Und nun stolpere ich über einen Artikel in der ZEIT: Pädagogen und Pädagoginnen wollen die Schreibschrift abschaffen! In der ersten Klasse wusste ich nicht, dass ich die "Lateinische Ausgangsschrift" lernte - im Gegensatz zur "Vereinfachten Ausgangsschrift" (alte Bundesländer neu) und der "Schulausgangsschrift" (neue Bundesländer alt). Aus diesem schnörkeligen Gebilde entwickelte sich dann meine heutige Handschrift, entrümpelt von etlichen Schlingen und Schleifen, doch sicher nicht weniger komplex. Der Grundschulverband möchte die Schreibschrift nun ganz abschaffen - zugunsten einer neu entwickelten "Grundschrift", die sich an der Druckschrift orientiert; Lesen und Schreiben werden als Einheit begriffen. Die Druckbuchstaben bekommen lediglich kleine Häkchen und Ösen hinzu, mit denen sie sich an ihren jeweiligen Nachbarn festhalten.

Ist nun die Schreibschrift wirklich obsolet? Ist sie gar eine Zumutung für die Kinder und behindert sie beim Lernen? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich entwickelt der eine oder die andere leichter eine lesbare Handschrift ohne den Umweg über lateinische Schnörkel, und so manche Lese- oder Schreibblockade käme erst gar nicht erst auf.

Was mich jedoch aufregte (auch dafür gab es mal eine Rubrik in der ZEIT), war folgendes Zitat im ZEIT-Artikel:

"Für Ada Sasse, Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Lesen und Schreiben und Professorin für Grundschulpädagogik an der Humboldt-Uni in Berlin, ist die Schreibschrift ohnehin von gestern: »Die Schreibschrift als Schrift zum Schreibenlernen war vor ein paar Jahrzehnten noch angesehen wie eine preußische Primärtugend - gleichzusetzen mit Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Disziplin. Aber darauf kommt es doch nicht an. Die Kinder müssen erkennen, dass Schrift ein lebensbedeutsames Kommunikationsmittel ist.« "

Letzteres erkennt man spätestens dann, wenn man feststellen muss, dass man dieses Kommunikationsmittel unzureichend beherrscht. Und was spricht bitte gegen Fleiß und Ordnung, so lange sie in einer angst- und drillfreien Umgebung eingeübt werden? Und die Bereitschaft, sich auch mal für etwas anzustrengen? Sie macht das Leben leichter - zumindest dann, wenn man sich nicht nur als Mitglied einer orientierungslosen Spaßgesellschaft begreift. Später gehen wir dann zur Volkshochschule und lernen beispielsweise Kalligrafie. Warum sollten nicht schon Kinder verschiedene Schriften lernen? Später müssen sie ja auch das "A" oder "Z" identifizieren können, egal ob es in Frutiger, Garamond oder gar einem der Schreibschrift nachempfundenen Font gesetzt wurde.

Haben wir in einem gewissen Alter nicht sogar ein Faible für Geheimschriften, so wie ich mich als Teenager mit der preußischen (!) Sütterlin beschäftigte? Die Sehnsucht nach Geheimsprache wird heutzutage durch SMS-Akronyme und Netzjargon gestillt.

Wäre es da nicht besser, man brächte Kindern das Schreiben gleich am Handy oder Laptop bei? Und die angehenden Lehrer und Lehrerinnen studierten Touchpadagogik!

Wie dem auch sei, ich gehe jetzt: AFK (away from keyboard)...

Quellen:
Fibel Bunte Lesewelt, Auer Verlag, Donauwörth, 1972, 120 Seiten (antiquarisch)
Mit Schwung, aber lesbar!, DIE ZEIT No. 13, 24. März 2011
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