22
Aug
2010

Unser Klavier

Unser Klavier hat es in sich. Besser noch wäre es zu sagen: unter sich. Unser Nachbar Herr Mutzke hat es jedenfalls hinter sich. Deshalb hat unser Umzug eigentlich gar keinen Sinn mehr. Herr Mutzke – oder Herr Motzke, wie wir ihn heimlich nennen – stand unten auf der Straße, als es passierte. Er wollte wohl sicher gehen, dass unser Klavier das Haus auch wirklich verlässt. Dabei spielt mein Mann gar nicht so schlecht. Für Elise, Alle meine Entchen und mein persönliches Lieblingsstück, den Flohwalzer. Ich finde, er hat sich über die Jahre wirklich gesteigert. Am liebsten spielte er sonntags nach dem Essen. Da mache ich immer den Abwasch. Er spielt, ich spüle und höre zu. Herr Motzke klopfte dann immer mit dem Besenstiel gegen die Wand. Er hatte ein ziemlich gutes Rhythmusgefühl, und mein Mann improvisierte gerne dazu. Bis Herr Motzke an unserer Wohnungstür klingelte, aber wir machten einfach nicht auf. Schließlich will man am Sonntag auch mal seine Ruhe. Und stellen Sie sich vor, eines Tages rief Herr Motzke die Polizei! Und dann kamen die Briefe. Erst von Herrn Motzke, dann von einem Anwalt und schließlich vom Vermieter, der uns kündigte. Die ganze Hausgemeinschaft hatte sich gegen uns verschworen. Wir fanden eine neue Wohnung. Am Umzugstag schlug jemand vor, das Klavier durch die breite Doppeltür auf den Balkon zu schieben und von dort aus abzuseilen. Dabei ist es dann auch passiert. Ein Knoten löste sich, das Klavier kippte unkontrolliert über das Geländer und zerbarst auf Herrn Motzke. Schade.

entstanden im Kurs Sprachinszenierungen, Wiener Schreibpädagogik, 27.03.2010
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