15
Jul
2010

Omas Jacke

Ich kann es nicht anders sagen: Meine Oma war gütig, und wir kamen prima miteinander aus. "Die Oma schimpft mich nie!", sagte ich anklagend zu meiner Mutter. Ihr Kommentar: "Bei ihr bist du ja auch immer brav." Mag sein, dass das stimmt. Das Miteinanderauskommen beruhte auf Gegenseitigkeit. Trotzdem muss die Geduld meiner Oma größer gewesen sein als meine Bravheit. Zum Beispiel, als sie mir beibrachte, wie man Schleifen bindet. Sie legte ihr Brillenetui vor mich hin und band eine Schnur darum, die sie geschickt zur Schleife wand. Ich versuchte, es ihr nachzutun. Ohne Erfolg. Quälte mich ab, doch die dumme Schnur wollte einfach nicht so, wie ich es wollte. "Geht nicht!", schrie ich, und das Etui flog durch das Wohnzimmer. Samt Omas Brille. Ich kann mich nicht erinnern, ob die Brille zu Bruch ging. Aber geschimpft hat Oma nicht.

Viele Jahre später gab mir meine Mutter eine Jacke mit, die meiner Oma gehört hatte. Mehr noch, Oma hatte sie selbst gehäkelt, aus einer undefinierbar grün-rot-grau melierten Kunstfaser-Wolle. Sie passte mir perfekt: die gleiche Breite in den Schultern, nicht zu lang und nicht zu kurz. In der Taille sehr bequem. Eine Jacke, in der man wohnen kann - Omas Jacke eben. Wie hast du das gemacht, Oma?, fragte ich mich. Zwar hatte ich irgendwann doch das Schleifenbinden gelernt, aber nicht, wie man Jacken häkelt. Ich bin sicher, Oma hat sich das Muster und den Schnitt einfach selber ausgedacht oder von einem anderen, gut sitzenden Oberteil abgeschaut. Ich dagegen produzierte zur Übung erst einmal einen Schal. Dann kaufte ich mir ein Häkelheft und fing an zu häkeln, ein sehr kompliziertes, aufwändiges Modell in flieder, mit Taschen und Fransen und Fächermuster - eine mathematische Herausforderung. Die Maße passte ich an Omas Jacke an. Jetzt bin ich fertig, und ich finde, meine Jacke ist sehr gut gelungen. Sie ist eigen, sieht nach mir aus. Und doch habe ich sie ein bisschen auch für meine Oma gemacht.
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