4
Aug
2010

Die Meisterin aus Wudang

Zu beiden Seiten der dunklen Gasse ragten jahrhundertealte, verwitterte Mauern auf, die noch keinem Stadtsanierer in die Quere gekommen waren. Miriam wich einem Hundehaufen aus und blieb vor einer Art Scheunentor stehen. Sie drückte gegen das raue Holz und schlüpfte in die zugige Durchfahrt. Sie hätte den Lichtschalter betätigen können, aber Miriam hatte gute Augen. Eulenaugen, die auch im Dunkeln noch ausreichend sahen. Sie war schon so auf die Welt gekommen, hatte aber nie jemandem davon erzählt. Erst Meister Fu hatte sie aufgeklärt, dass sie damit über eine außergewöhnliche Gabe verfügte, die durch nichts und niemanden zu trainieren war. Sie hoffte, die Meisterin würde es entsprechend würdigen. Denn was nützte einem schon die beste Technik, wenn man im Dunkeln aufgeschmissen war?
Sie überquerte den Innenhof und gelangte durch eine zweite Tür in das modrig riechende Treppenhaus. In den letzten drei Jahren war sie zweimal wöchentlich diese knarzenden Stufen hinaufgestiegen, um sich von Meister Fu unterweisen zu lassen. Sie liebte Meister Fu. Er war mindestens hundert Jahre alt, streng und gütig – und der witzigste Lehrer, den man sich vorstellen konnte.
Durch die Ritze unter der Tür fiel warmes Licht. Voller Erwartung drückte Miriam die Türklinke hinunter und trat ein. Meister Fus Unterrichtsraum lag unter dem Dach; das dunkel glänzende Holz des Fußbodens war vom jahrhundertelangen Gebrauch blank gescheuert und uneben. An manchen Stellen knarzte es genauso wie die Stufen im Treppenhaus. Zwei Stützen mitten im Raum trugen die Firstpfette und standen mitunter beim Üben im Weg. Davon abgesehen, störte nichts die Konzentration, denn der Raum war leer, die Wände schmucklos und die drei Fenster auf der Giebelseite nackt. Vor dem mittleren Fenster stand Meister Fu, wie immer in seinen zerschlissenen Hosen und dem weiten, löchrigen Hemd. Nur seinen Gürtel mit den chinesischen Schriftzeichen trug er heute als Stirnband, wodurch das Hemd noch mehr um seine dürre Gestalt herumschlotterte als sonst. Er sah unglaublich gebrechlich aus, bediente jedoch mit sicheren Händen den Discman auf dem Fensterbrett. Leise Meditationsmusik sickerte aus den kleinen Lautsprecherboxen. Ihre sieben Mitschüler befanden sich, über den Raum verteilt, in verschiedenen Stadien des Umkleidens.
"Ist sie schon da?", raunte sie Klaus zu, während sie ihre Stiefel auszog. Er nestelte gerade an seinem Gürtel und wies nur stumm mit dem Kinn auf die Stelle neben dem Fenster. Dort sah sie einen Schwertständer, mit drei unterschiedlichen Waffen bestückt: Schwert, Dolch und Stock. Daneben lehnte ein zusammengefalteter Fächer, dessen Rippen mit Seide bespannt waren und am Ende in tödlichen Stahlspitzen ausliefen – das übliche Handwerkszeug der Wudangkämpferinnen.
Miriam schluckte, als sie das Schwert sah. Es glänzte silbrig, war wunderschön – und scharf. Eine Art elektrisches Summen ging von ihm aus, als stünde sie unter einer Hochspannungsleitung. Sie musste es einfach anfassen. Der mit hunderten winziger Edelsteine verzierte Griff lag gut in der Hand, sein Schwerpunkt war perfekt ausbalanciert. Trotzdem wog die Waffe kaum schwerer als ihr eigenes Holzschwert, fühlte sich an wie eine natürliche Verlängerung des Armes. Miriam probierte ein paar kleine, vorsichtige Bewegungen, gebannt vom Anblick der Ehrfurcht gebietenden Waffe.
Dann veränderte sich die Energie um sie herum, als würde sie von einer unbekannten Person beobachtet. Und richtig, gleich darauf traf eine leise, tiefe Frauenstimme sie hart in den Rücken: "Du willst also gegen mich antreten?" Beinahe hätte Miriam das Schwert fallen lassen. Wie war die Fremde nur hereingekommen? Miriam hatte keine Schritte gehört.
"Gib mir dein Schwert."
Miriam drehte sich um und streckte die Waffe von sich, die Schneide abgewandt. Sie blickte in ein Paar kleiner, tiefschwarzer Augen in einem alterslos erscheinenden Gesicht. Die Frau trug einen Anzug aus roter Rohseide; sie war mindestens einen Kopf kleiner als Miriam. Trotzdem wirkte es, als blicke sie von einem hohen Berg herab. Vor Miriam stand die Meisterin aus Wudang.
"Nicht dieses, du Dummkopf", sagte sie spöttisch, "dein eigenes, das du mitgebracht hast. Oder willst du, dass ich dich aus Versehen entzwei schneide?"
Miriam ließ ihre längliche Stofftasche von der Schulter gleiten und reichte sie der Meisterin. Beschämt schaute sie zu, wie die zierliche Frau das hölzerne Übungsschwert herauszog und dabei ein feines Lächeln aufsetzte. "Schön", sagte sie und ließ die Hand über das dunkel gemaserte Holz gleiten, aber es lag mehr Spott als Anerkennung in ihrer Stimme. Meister Fu warf Miriam einen eindringlichen Blick zu. Sie zwang sich, ihren Geist leer zu machen. Sie durfte sich nicht provozieren lassen oder gar zornig werden. Stattdessen setzte sie ihr schönstes inneres Lächeln auf, verband sich mit Erde und Himmel und sagte: "Ich bin bereit, Meisterin."
Sie begannen mit der Form, erst langsam, dann immer schneller werdend - vor, zurück, rechts, links - mehr Partnerinnen als Gegnerinnen. Miriams Brust weitete sich wie gewöhnlich, wenn sie übte. Ihr Atem vertiefte sich, und sie fühlte sich sicher. Doch dann landete die Meisterin mit einem weiten Ausfallschritt hinter ihr und griff, Miriam wusste nicht wie, nach ihrer Schwerthand. "Deine Haare sind viel zu lang", lachte sie. Im nächsten Moment spürte Miriam ein leichtes Ziehen an ihrem Hinterkopf. Ihr dicker, rotbrauner Zopf fiel mit einem leisen "Plopp" zu Boden, abgeschnitten von dem Schwert, das sie selbst in der Hand hielt. Es war zum Heulen. Wiederum bezwang sie Zorn und Angst und verlangsamte im Geist die Zeit, bis der Raum um sie herum weit wurde. Sie wirbelte herum zu einem Schlag auf das Knie ihrer Gegnerin, die ihn wie erwartet mühelos abwehrte und begann, Miriam systematisch in die Ecke zu treiben. Mit immer neuen, überraschenden Schlägen und Täuschungsmanövern ließ sie Miriam nicht einmal auf Schwertlänge an sich herankommen. Im Vorübertanzen erhaschte sie einen kurzen Blick auf Meister Fus Gesicht. Es war nicht gelassen wie sonst, sondern spiegelte ungewohnte Anspannung. Die Sorge, ihn heute Abend zu enttäuschen, machte Miriam traurig.
Der Kampfschrei ihrer Gegnerin fegte jedoch alle Gedanken aus ihrem Kopf. Miriam schaffte es gerade noch, dem zischenden Holzschwert auszuweichen und die Frau aus Wudang die unendliche Leere des Nichts spüren zu lassen.
Plötzlich wurde es dunkel, und die Meditationsmusik verstummte. Für einen Moment rührte sich niemand. Da bemerkte Miriam den Hauch eines Lichtscheins, der flackernd durch einen dunklen Vorhang auf der gegenüberliegenden Seite des Innenhofes drang und ihr ermöglichte, sich zu orientieren. Mutig sprang sie nach vorne, schlitzte mit dem Schwert knapp am Gesicht der Meisterin vorbei und setzte Hieb um Hieb, tänzelte dabei vor und zurück, ließ das wunderbare Schwert effektvoll herumwirbeln und stieß immer wieder zu. Das, was von ihrem Haar noch übrig war, flog wild um ihr Gesicht und in ihre Augen. Sie setzte präzise Schlag um Schlag, Stich für Stich und stoppte die Schwertspitze jeweils nur Millimeter vom Körper der Meisterin entfernt. Gleichzeitig musste sie darauf achten, ihre Mitschüler nicht zu verletzen. Nur einmal, als sie mit dem Schwert ausholte, hörte sie ein leise schlitzendes Geräusch und ein erstauntes "Oh!". Da aber weder ein Schmerzenslaut zu hören war, noch ein Körper zu Boden ging, nahm sie an, dass sie nichts Wesentliches getroffen hatte.
Die Meisterin schien, wie die Mitschüler auch, im Dunkeln praktisch blind zu sein. Trotzdem landete sie immer wieder Treffer mit dem Schwert. Offenbar vermochte sie die Bewegungen ihrer hitzig kämpfenden Gegnerin zu fühlen. Einer der Hiebe traf Miriam an der Schläfe und ließ sie benommen zurücktaumeln. Wie in einem Strudel sank sie hinab bis auf den Grund der Stille.
Mitten hinein in die vervielfachte Sensibilität ihrer Sinne klatschte das Geräusch eines sich öffnenden Fächers. Die gefährlichen Stahlspitzen blitzten vor Miriam auf, bereit, ihre Haut zu zerschlitzen. Beinahe schon konnte sie den heißen Schmerz fühlen. Dann entlud sich all ihre Anspannung in einer letzten, blitzschnellen Drehung, und Miriam sprang, als flöge sie, langsam und in großer Höhe. Sie holte zu einem Fußkick aus, höher als alle, die ihr bisher gelungen waren. Ihre Ferse traf die linke Schulter der Meisterin. Miriam prallte an ihr ab wie ein Gummiball und blieb schließlich betäubt liegen, all ihrer Kräfte beraubt. Neben ihr ging mit einem Aufschrei die Meisterin zu Boden. Zuletzt landeten die Waffen, Fächer auf Stahlschwert auf Holzschwert. Dann war es still.
Miriam wartete, bis die Meisterin aufgestanden war, und erhob sich dann selbst auf die Knie, wobei jeder Knochen, jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. "Bitte unterweise mich, Meisterin." Nichts auf der Welt wünschte sie sich mehr. Eine Weile lang kniete sie dort in einer seltsamen Stimmung, halb Euphorie, halb Angst. Offenbar hatte Miriam sich als ernst zu nehmende Gegnerin erwiesen. Aber was, wenn sie die Meisterin gekränkt hatte, indem sie sie in Bedrängnis brachte? Andererseits musste eine Wudang-Kämpferin über Mut und Ehrlichkeit verfügen. Wie hätte sie sich überwältigen lassen können, ohne alles zu verraten, was Meister Fu ihr jemals beigebracht hatte – die heiligen Prinzipien der Kampfkunst?
Schließlich reichte ihr die Frau aus Wudang die Hand und half ihr auf.
"Sei meine Schülerin", sagte sie feierlich.
Miriam brach in Freudentränen aus, während ihre Mitschüler zu jubeln begannen. Es schien, als erwachten sie aus einer Starre, denn erst jetzt traute sich jemand, Meister Fus Streichhölzer zur Hand zu nehmen und die Kerze anzuzünden, die der Lehrer zum Meditieren benutzte. Schemenhaft tauchten die Umrisse der anderen Schüler auf. Einer schaute den anderen an – und alle lachten gleichzeitig los. Klaus stand in einer geblümten Unterhose da. Miriam hatte im Kampf aus Versehen seinen Gürtel durchtrennt. Nur sie selbst war betroffen.
Suchend sah sie sich nach Meister Fu um - dem Mann, dem sie ihr Können verdankte. Er war nirgends zu sehen. "Wo ist Fu?", fragte sie Klaus. "Er ist vorhin rausgegangen", meinte er, und Miriam rannte auf den Flur. "Meister Fu?" rief sie in das dunkle Treppenauge, "Meister Fu? Wo bist du?" Da hörte sie ein Geräusch, das von ganz unten zu kommen schien. Was wollte er dort unten, am Fuß der Treppe? War er gestürzt? Und warum hatte er ihr nicht wenigstens durch seine Gegenwart beigestanden, als sie um die Erfüllung ihres Wunschtraums kämpfte, ihre Aufnahme in die Kampfkunstschule von Wudang? Hatte er es nicht mit ansehen können, hatte sie das Schwert so schlecht geführt? Mit klopfendem Herzen rannte sie die dunkle Treppenflucht hinab, und als sie fast unten angekommen war, ging plötzlich das Licht wieder an. Meister Fu stand am Sicherungskasten und kicherte lautlos. "Meister Fu", rief Miriam, "ich habe gewonnen!"
"Ich weiß, Eulenauge, ich weiß." Er streckte seine pergamentenen Arme aus, und als Miriam auf ihn zuging, packte er ihre Hand und warf sie mühelos zu Boden. Immer noch kichernd, stieg er vor ihr die Treppe hinauf.
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