20
Jul
2010

Lockere Schrauben

In Romans Bett war es warm und kuschelig, aber er musste ständig an dieses alte Tonbandgerät denken, an dem er kurz vor dem Schlafengehen noch gebastelt hatte - bis ihm diese verdammte Schraube heruntergefallen war. Er suchte sie überall, konnte sie aber nicht finden. Deshalb war er eigentlich viel zu aufgedreht zum Schlafen, aber die Stimmen aus dem Radiowecker beruhigten ihn. Zunächst. Die Stimmen... lauter werdende Stimmen... ein Schrei... ein sich überschlagendes Pfeifen wie von einer Rückkopplung und dann diese nervtötend schrille Stimme: "Huuuuhuuuuuuuuuuuiiii! Was ist das! Was – ist – das?! Aaaaaaiiii!" Es polterte, als ob ein Stuhl umgestoßen würde. Wummernde Paukenschläge holten Roman endgültig wieder aus dem Schlaf. Dann riss die Musik ab, und eine blecherne Stimme sagte drohend: "Der KONDENSATOR ist zurück!"
Jäh säbelten Geigen los. Roman langte aus dem Bett und ließ die flache Hand auf den Radiowecker sausen. Die Geigen verstummten.
"Aua, der hat mich gehauen." Roman meinte die schrille Stimme wieder zu erkennen, nur dass sie jetzt etwas heiser klang. Kein Wunder.
"Dass du aber auch immer so übertreiben musst, Susi", sagte die Blechstimme.
"Ich kann halt nicht anders, muss mich hier total verausgaben. Gibt ja neuerdings nicht mal mehr Radios mit ordentlichem Resonanzkörper", antwortete Susi beleidigt. Roman drehte erst am Lautstärkeregler, dann versuchte er einen anderen Sender einzustellen.
"Ih, das kitzelt!", kicherte das Radio und verpasste Roman einen winzigen Stromstoß.
"Aua!"
"Jetzt lass den Roman in Ruhe, du verrückt gewordener Schaltkreis", sagte die Blechstimme. "Der kann doch auch nichts für das schlechte Radioprogramm."
"Jetzt reicht's aber langsam. Wer spricht denn da?" Roman hatte Nella im Verdacht. Sie wohnte über ihm, und seit sie sich einmal nachts nach einem Stromausfall näher gekommen waren, hatte sie einen Schlüssel für sein Appartement. Nella war mindestens so verrückt wie er selbst. Aber keine der Stimmen klang nach ihr.
"Susi Spule", flötete die Schrille.
"Thomas Transistor", schepperte das Blech.
"Kuno Kondensator!" Ein dreckiges Lachen folgte.
"Und ich bin Wilma Widerstand. Der Stromstoß vorhin hätte tödlich für dich sein können, wenn ich mich nicht dazwischengeschaltet hätte", behauptete sie mit rauchiger Stimme.
Transistor-Thomas schien der Chef zu sein – egal, wie sehr Kuno sich bemühte, Eindruck zu schinden, und ganz gleich, wie hart Susi Spule im Kern sein mochte. Damit überspielte sie vermutlich nur ihre Minderwertigkeitskomplexe – sie war immer schon dicklich gewesen, und im Laufe der Jahre waren ihre Wicklungen etwas aus der Form geraten. Wilma Widerstand hingegen war eine Klasse für sich, das wusste Roman seit der letzten Reparatur. Klein und rund hatte sie vor ihm gelegen, wie ein süßes rotes Bonbon. Schon damals hatte Roman eine gewisse Zuneigung zu ihr empfunden, das Gefühl aber gleich wieder verdrängt. Schließlich war sie nur ein Elektronikbauteil. Aber jetzt, wo er von ihr träumte – es war doch ein Traum, oder? -, konnte er sich genauso gut mit ihr unterhalten.
"Was macht die Lötstelle, Wilma?", erkundigte er sich.
"Danke, kann nicht klagen. Praktisch schmerzfrei, und das bei voller Ohmzahl. Du bist einfach ein Meister mit dem Lötkolben, das wollte ich dir schon immer mal sagen." Roman errötete, was aber im Schein der roten LED nur wenig auffiel. Um sich abzulenken, fragte er: "Und was habt ihr jetzt vor?"
"Wir waren gerade dabei, ein Hörspiel aufzuführen", rief Kuno.
"Genau", fuhr Susi dazwischen, "das Zeug, das du dir Mittwoch Nacht immer anhörst, das hält ja kein Mensch aus! Hast du dir schon mal überlegt, was du uns damit antust?"
"Ehrlich gesagt nicht", gab Roman zu, "macht doch mal weiter."
"Aber nicht mit dem furchtbaren Hörspiel", wimmerte es da plötzlich. Es waren Shizouko und Sakura, die beiden japanischen Lautsprecherinnen. "Am liebsten würden wir sowieso gleich schlafen gehen."
"Ja wo gibt es denn sowas", polterte Thomas Transistor los, aber Roman unterbrach ihn. "Ist schon in Ordnung. Soll ich euch in Zukunft lieber was vorspielen - eine CD vielleicht? Was mögt ihr denn?" Das Radio schüttelte die Antenne. "Keine Konserven, bitte."
Da begann Wilma zu singen. Kuno brummte den Bass, während Thomas ein düsteres, blechernes Rauschen erzeugte, das wunderbar mit ihrer tiefen, jazzigen Stimme verschmolz. Susi, Shizouko und Sakura summten leise mit. Das Ensemble schien perfekt aufeinander eingestimmt. Roman war sich sicher, dass sie heimlich übten, sobald er die Wohnung verließ. "Schade, dass ihr kein Kassettenfach habt", sagte er, als sie fertig waren, "dann könnte ich euch aufnehmen."
"Was ist denn mit dem Tonbandgerät da drüben?", fragte Susi.
"Da ist ihm doch vorhin 'ne Schraube runtergefallen", erinnerte Thomas.
"Hähä, Roman hat 'ne Schraube locker", röhrte Kuno.
"Klappe", schnurrte Wilma nur.
Shizouko fiepte: "Ich glaube, ich weiß wo die Schraube ist."
"Ehrlich? Hast du sie gesehen?" Roman wurde plötzlich ganz aufgeregt und beugte sein Ohr ganz nahe an die Lautsprecherin, die ihn unfein anrülpste. "Ich bin's nicht", sagte Sakura.
"Entschuldigung." Roman legte sein Ohr auf die andere Seite, und Shizouko flüsterte: "Schau mal unter uns."
Vorsichtig hob Roman den Radiowecker an und fuhr mit der anderen Hand über den Boden. Und da lag sie, eingebettet zwischen Staubwölkchen: die vermisste Schraube. "Danke!", jubelte er und legte das kleine Ding vorsichtig auf seinem Nachtkästchen ab. Er wollte dem Radio eine nette Geste zukommen zu lassen und streckte die Hand nach ihm aus, um es zu streicheln.

Als er das Gehäuse berührte, fuhr ein Stromstoß durch seinen Arm. Er hörte Wilma noch schreien, dann kippte er um.

Anscheinend hatte Wilmas Widerstand ausgereicht, den Stromschlag soweit abzumildern, dass Roman keine bleibenden Schäden davontrug. Er schlief tief und traumlos, bis sich der Radiowecker einschaltete. Roman erinnerte sich an nichts, freute sich aber, als er die Schraube auf dem Nachttisch fand. Als er das Tonbandgerät wieder zusammengebaut hatte und es ans Stromnetz anschloss, meinte er ein leises Hüsteln zu hören.
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