25
Aug
2010

Ria Racheengel

Die Chefsekretärin reichte Ria ihre Papiere und umarmte sie spontan. Vermutlich war Renate die einzige, die Rias Kündigung bedauerte. "Danke", murmelte Ria. Nur eins wollte sie noch wissen. "Stimmt es, dass Alexander meine Baustelle in der Südstadt übernommen hat?" Renate kicherte. "Oh ja. Er hat sie immer noch nicht im Griff. Der Chef ist stinksauer." Ria nickte zufrieden. Nach ihrer Kündigung hatte man sie sofort freigestellt, und niemand war an einer ordentlichen Übergabe interessiert gewesen. Am wenigsten sie selbst. Sollten sie doch sehen, wie sie ohne sie zurechtkamen. Als sie auf den Flur hinaus trat, meinte sie im Rücken Alexanders Blick zu spüren. Genau wie an dem Abend in Renates Garten.
Alexander, gut zehn Jahre älter als sie und die rechte Hand des Chefs. Er hatte sie eingearbeitet. Ria kam frisch von der Hochschule und war beeindruckt von seinem Wissen und seiner Souveränität. Außerdem hielt er Krämer in Schach, einen Techniker, der ihnen beiden zuarbeiten sollte. Krämer war ein Typ mit einem Lachen, das sie erschreckte. Wie anders dagegen das Lächeln, mit dem Alexander geduldig ihre Fragen beantwortete. "Du machst dich gut", sagte er einmal zu ihr. Zu ihrem Ärger wurde Ria rot. Auf der Grillparty von Renate, der Sekretärin, passierte es dann. Ria war aufgestanden, um sich im Garten die Beine zu vertreten, als er plötzlich neben ihr auftauchte. Er sagte nichts, schaute sie nur an. Er hatte dunkle Augen. Alles an Alexander war dunkel.
"Was ist?", fragte Ria irritiert. Da nahm er eine ihrer feinen, blonden Haarsträhnen und ließ sie langsam durch seine Finger gleiten.
"Engelshaar", sagte er.
Später, in ihrem Einzimmerappartement, nannte er sie selbst einen Engel.
"Ich schwebe ja auch wie ein Engel", lächelte Ria, "auf einer Wolke." Am Morgen fuhren sie auf verschiedenen Wegen zur Arbeit.
Zunächst genoss Ria die Heimlichkeit, es war wie ein aufregendes Spiel. Aber je länger ihre Beziehung zu Alexander dauerte, desto schwerer fiel es ihr, die Maske im Büro aufrecht zu erhalten.
"Wollen wir den anderen nicht endlich verraten, dass wir zusammen sind?", fragte sie ihn eines Abends. Sie lagen zusammen im Bett, Ria eng in Alexanders Arm gekuschelt.
"Wozu?", fragte er.
"Weil ich dich liebe! Manchmal denke ich, es sieht mir sowieso jeder an."
"Unsinn." Er zog sie fester zu sich heran und küsste sie sprachlos.
Dann bekam Alexander diese Großbaustelle in Sachsen, und Ria hörte länger nichts von ihm. Bestimmt arbeitete er wie ein Tier. Erst am Tag vor dem Betriebsurlaub erwischte Ria ihn allein im Büro. Als sie ihn auf den gemeinsamen Urlaub bei ihren Eltern ansprach, schüttelte Alexander den Kopf: "Du, sei mir nicht böse – aber nach der stressigen Zeit brauche ich ein paar Tage für mich. Fahr du doch schon mal allein." Ria versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. "Ja, natürlich... aber du kommst doch nach?" Er nickte unbestimmt. "Ich ruf dich an", sagte er, schon halb auf dem Weg zur Tür, "genieß den Sommer!"
Er rief nicht an, und nach dem Betriebsurlaub schien er genauso beschäftigt wie zuvor, bis sie ihm schließlich auf dem Weg zur Bauleiterbesprechung begegnete. Am liebsten hätte Ria ihn zur Rede gestellt. Stattdessen fragte er sie sofort nach der Zahlung, die sie einem schlampigen Subunternehmer verweigert hatte.
"Ich habe ihm gesagt, er kriegt sein Geld nächste Woche", erklärte Alexander. Und drängte sich vor Ria ins Besprechungszimmer, wo er sich ruhig eine Tasse Kaffee einschenkte. Ria folgte ihm und blieb hinter ihm stehen, die Fäuste in die Taille gestemmt. "Das ist ja wohl die Höhe! Wie kommst du dazu, dich in meine Abrechnung einzumischen?"
Gelassen rührte er Milch in seinen Kaffeebecher, bevor er sich zu ihr umdrehte. "Ich arbeite dich ein – schon vergessen? Jetzt sei doch nicht so empfindlich!"
"Ich bin nicht empfindlich – du fällst mir in den Rücken!"
"Ach, du bist doch nur sauer, weil wir nicht mehr miteinander..."
Keiner sagte ein Wort. Alle schauten Ria an, als stünde das, was Alexander nicht ausgesprochen hatte, auf ihrer Stirn geschrieben. Ria spürte die Hitze auf ihrem Gesicht, ihre Arme sanken herab. Alexander sah erschrocken aus, während Krämers Mundwinkel spöttisch zuckten. Ria stieß rückwärts gegen die Tür, machte kehrt und stolperte hinaus.
Am nächsten Tag musste Ria nach München, um einen erkrankten Kollegen zu vertreten. Von da an arbeitete sie fast täglich bis spät in die Nacht. Tagsüber in München, abends im Büro. Zum ersten Mal war sie völlig auf sich allein gestellt. Alexander war angeblich nur noch auf seiner Großbaustelle, die Kollegen wichen ihren Fragen aus, und Krämer grinste jedes Mal anzüglich, wenn er sie sah. Eines Abends kam er ohne anzuklopfen herein und setzte sich auf den Besucherstuhl.
"Du arbeitest ganz schön viel", stellte er fest. "Ich könnte dir helfen."
Völlig unvorbereitet spürte sie seine Hand auf ihrem Knie. Sie schrie auf. "Bitte lass das!" Als er nicht reagierte, schlug sie mit der Hand nach ihm, aber er packte ihr Handgelenk und zog sie samt Bürostuhl zu sich heran. Sein Knie glitt zwischen ihre Beine. In Panik stieß sie ihren Fuß mit dem Sicherheitsstiefel nach oben. Krämer klappte nach vorne und rang nach Luft, die Hände auf die empfindliche Stelle gepresst, an der die Stahlkappe ihn getroffen hatte.
"Du spinnst wohl total!", schrie sie und rannte aus der Tür. Sie sprang in ihr Auto und verriegelte die Türen von innen. Erst nach mehreren Versuchen schaffte sie es, den Zündschlüssel ins Schloss zu stecken.
Am nächsten Morgen um halb sieben betrat sie das Büro des Chefs. Er wandte den Blick nicht einmal vom Bildschirm ab. "Es ist mir sehr unangenehm", sagte sie, "aber gestern Abend ist mir etwas passiert, ich meine – Krämer hat mich... belästigt."
"Tja", sagte er und zuckte mit den Schultern. "Wie man sich bettet, so liegt man." Endlich schaute er sie an, über den Rand seiner Lesebrille hinweg, mit hochgezogenen Augenbrauen. Das Schweigen zwischen ihnen wuchs, und Ria kämpfte mit den Tränen. "Wenn Sie das so sehen… muss ich wohl kündigen", sagte sie.
Wochen später klapperten ihre Blockabsätze über den leeren Büroflur, jeder Schritt eine kleine, kalte Explosion. Sie passierte die geschlossenen Bürotüren, das menschenleere Foyer und schließlich die Eingangstür. Sie war mit dem Firmenwagen gekommen. Jetzt ging sie zur Bushaltestelle. Der Dreizehner würde sie direkt in die Südstadt bringen. Sie wusste nicht genau, welche Haltestelle es war, und stieg zu früh aus. Langsam ging sie durch die Wohnstraßen, hinter den Erkerfenstern die Feierabendpanoramen fremder Menschen. Hemdsärmelige Familienväter stellten ihre Aktentaschen in der Küche ab und küssten daheimgebliebene Ehefrauen, Kinder machten Hausaufgaben und Babys in Hochstühlen wurden aus Gläschen gefüttert. Erdrückende Idyllen überall. Die Oktobersonne versank langsam hinter den Häusern, während Ria überlegte, ob sie in der Stadt bleiben sollte. Sie war ja nur wegen ihres Jobs hergezogen und kannte so gut wie niemanden hier. Halbherzig hatte sie einige Bewerbungen geschrieben, aber sie wusste nicht, ob sie überhaupt noch in der Baubranche arbeiten wollte. Im Grunde konnte sie alles machen und überall hingehen. Wenn sie die Kraft dafür wiederfand. Im Moment fiel es ihr sogar schwer, die Straße entlang zu gehen.
Es war schon dunkel, als sie zu der Baustelle kam, die einmal ihre gewesen war: Ein seelenloses Quartier voller uniformer Reihenhäuser. Der Baucontainer stand nicht weit von der Straße entfernt. Wie sie erwartet hatte, brannte Licht darin. Und Alexanders Firmenwagen parkte davor. Ria ging näher heran. Durch das Fenster des Containers konnte sie seinen Kopf erkennen, konzentriert über den Schreibtisch gebeugt. Seit dem Morgen im Besprechungszimmer hatte er kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Ihr wurde übel vor Wut, und sie unterdrückte den Impuls, die Tür zum Container aufzureißen und ihn zur Rede zu stellen. Doch dann kam ihr eine bessere Idee. Sie hob ein Zaunfeld aus dem Betonfuß und schlüpfte durch die Lücke auf das Gelände. Da war dieser helle Betonkreis im Asphalt, direkt neben der Fahrertür des Autos. Ria öffnete Kofferraum – wie immer hatte Mr. Sorglos nicht abgeschlossen. Darin lag der Kanalhaken. Sie wartete, bis ein LKW sich näherte. Dann schloss sie die Hände fest um das kühle Eisen und hob mit einem Ruck den Kanaldeckel heraus, genau wie Alexander es ihr gezeigt hatte. Das Scheppern ging im Verkehrslärm unter. Die dunkle Öffnung im Asphalt war kaum zu erkennen. Sie legte das Werkzeug in den Kofferraum zurück und schlüpfte wieder durch den Bauzaun, überquerte die Straße und wartete. Eine Stunde später schließlich ging das Licht im Baucontainer aus. Ria beobachtete, wie Alexander auf sein Auto zuging: Aufrecht, schlank und voller Elan, ein Gewinnertyp. Er hielt den Autoschlüssel in der Hand, den Arm ausgestreckt. Dann verschwand er. Lautlos. Kein Überraschungsschrei drang zu ihr herüber, und auch kein dumpfer Aufschlag. Sie konnte sich noch gut an die Pläne erinnern: Der Schacht war tief. Tief genug.
844 mal gelesen

Alltagsfreuden
Altlasten
Dichtung und Wahrheit
Essen und Trinken
Experimente
Geschichten
Haus- und Handarbeit
Menschen
mobil
music & movies
radicchia 2.0
Reisen
Selma
Stadt und Land
Über mich
Verdammte Technik
... weitere
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren