16
Aug
2010

Friedbertas letzte Ruhe

Mit gebauschten Röcken stöckelte Friedberta auf das Rathaus zu, wo sie heute mit der goldenen Treuenadel ausgezeichnet werden sollte. Fünfzig Jahre Urlaub im Bayerischen Wald, in ein und derselben Pension, das machte ihr so schnell niemand nach! Sie hatte schon die Eltern und Großeltern ihrer jetzigen Pensionswirtin gekannt. Und den Großonkel des Bürgermeisters, der ihr gleich die Treuenadel an den Busen heften würde, sowie den Gründer der Glashütte, die heute nur noch ein Museum beherbergte, die ledige Mutter des Freundes eines Bekannten vom Vorgänger des heutigen Pächters des Restaurants im Grenzbahnhof und die Schwester der Erben des letzten Bewohners des Dorfes, das einst an der Stelle gelegen hatte, wo jetzt ein Trinkwasserspeicher war. Nicht zu vergessen die Eltern des Gründers der Bürgerinitiative, die sich nicht gegen die Talsperre hatte durchsetzen können. Friedberta hatte auch die Zeit erlebt, in der das Grüne Dach Europas noch grün gewesen war, genauso wie sie jetzt fast jeden Borkenkäfer mit Namen kannte und die Abfahrts- und Ankunftszeiten der Waldbahn auswendig wusste. Drei viel zu kurze Wochen jedes Jahres gehörte Friedbertas Denken und Fühlen nur ihrem Urlaubsort. Vor allem ihr Fühlen. Voller Vorfreude eilte sie an dem kleinen Springbrunnen auf dem Rathausplatz vorbei – und blieb stehen. Wo war denn die kleine Brunnenfigur? Friedberta trat näher und warf einen Blick auf die sich kräuselnde Wasseroberfläche. Sie sah ihr eigenes Gesicht wie damals, als sie eine junge Frau gewesen war. In ihrem ersten Sommer hier hatte sie den feschesten Burschen erobert und mit ihm auf dem Dorffest getanzt. Danach hatte er die Brunnenfigur nach Friedbertas Bild geschaffen. Als Friedberta im darauffolgenden Jahr zurück kehrte, war ihr Bursche weggezogen und hatte eine andere geheiratet. In einem Waldbauerndorf war damals kein Platz für einen Bildhauer, der Steinskulpturen schuf. Einzig die Brunnenfigur hatte all die Jahre überdauert, in denen Friedberta "ihrem" Dorf die Treue hielt. Doch wo war sie jetzt? Friedberta schürzte den Rock und stellte sich versuchshalber auf den Sockel, wandte das Gesicht zum Himmel und lächelte der Sonne zu, den Rock kess bis übers Knie gezogen, ganz wie die Steinskulptur.
In diesem Moment hörte Friedbertas Herz auf zu schlagen, und ihre schönen Erinnerungen erstarrten für immer zu Stein. Als der Bürgermeister auf den Rathausplatz trat, um nach der verspäteten Jubilarin Ausschau zu halten, wunderte er sich nur, wie frisch und neu die alte Brunnenfigur auf einmal aussah. Auch hatte er sie etwas kleiner in Erinnerung. So konnte man sich täuschen.

entstanden im Kurs Motivinszenierungen, Wiener Schreibpädagogik, 02.05.2010
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