6
Okt
2010

Die Laute wartet

Die Laute eng an den Körper gepresst und tausend Fragen im Gepäck, sitzt Ángel höflich nickend da und erträgt geduldig den Wortschwall, der, seit Minuten schon über ihm ausgegossen, ihm Gehirn und Gehör verklebt. Die Frau gegenüber – mittelgroß, mittelgewichtig, mittelalt – spricht mittelmäßiges Spanisch mit starkem deutschem Akzent. Ließe sie ihn einmal zu Wort kommen, würde sie merken, dass er langsames und wohlklingendes, für sie gut verständliches Spanisch spricht. Doch hier im Wartebereich des Frankfurter Flughafens gibt es kein Entrinnen. Sein Weiterflug nach München verzögert sich; es ist unwahrscheinlich, dass er heute noch dort ankommt. Ein befreundeter Musiker hat ihn eingeladen, aus Chile nach Deutschland zu kommen und Europäische Musik zu spielen. Ein gemeinsames Konzert in den wirklich stillen Tagen zwischen Weihnachten und dem Jahresende, in einer Kirche, vielleicht sogar eine Aufnahme im kleinen Studio des Freundes. Die Frau fährt fort, über das unbekannte Land zu referieren, das er nur durch Erzählungen seiner Musikerkollegen kennt.
In Chile ist Ángel ein recht bekannter Klassikinterpret, hier in Deutschland halten sie ihn für einen Straßenmusiker. Die Frau erzählt von den südamerikanischen Panflötenspielern in deutschen Fußgängerzonen, und wie toll sie die Folklore aus den Anden findet, besonders jetzt zur Weihnachtszeit. Ángel hat zu Hause nicht nur die Laute studiert. Er hat sich viel mit Sprachen beschäftigt, hat gehofft, sie eines Tages in ihren Ursprungsländern anwenden zu können. Vielleicht wird er sich wirklich als Straßenmusiker verdingen, in Edinburgh, Venedig oder Paris. Er steht auf und sagt in fehlerfreiem Deutsch: "Entschuldigen Sie vielmals, aber ich muss zur Toilette."
Dort wird er sich einschließen und vielleicht ein wenig auf der Laute spielen.

entstanden im Workshop Schreiben aus dem Unbewussten, Wiener Schreibpädagogik, 13.12.2009
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