2
Aug
2010

Dornröschen

Neulich habe ich mein Auto getauft. Ganz spontan kam mir der Name in den Sinn, als ich es am Straßenrand stehen sah und grüne Blättchen seine Scheiben küssten. Ich hatte es schon wieder eine Weile nicht benutzt, und das Gestrüpp schien unmerklich dichter geworden zu sein. Der Busch streckte seine Zweige auf der Fahrerseite aus, sodass ich Mühe hatte, hinein zu kommen. Dornröschen, schoss es mir durch den Kopf. Dabei ist mein Auto alles andere als eine liebliche Jungfrau. Zwölf Jahre alt und ein wahrer Klotz, ein VW-Passat in dunkelgrün. Grün wie das Blattwerk ringsum. Bald hat es 150.000 Kilometer auf dem Motorblock. Seine größten Reisen hat es vermutlich hinter sich, bei mir steht es häufiger herum, als dass es benutzt wird. Manchmal fahren wir zum Einkaufen, ein andermal besuchen wir eine Freundin im romantischen Labertal. Dort stelle ich es auf einem Marktplatz ab, wo dörfliches Leben es umgibt. Vielleicht pinkeln Hunde an seine neuen Reifen, oder Kinderhände patschen auf seinen staubigen Lack. Wenn ich Dornröschen aus seiner Parkstellung wecke, blinzelt es mich mitnichten verschlafen an. Stattdessen entriegeln sich die Türen alle gleichzeitig mit einem dumpfen Schronk. Es springt auch jedes Mal an. So wie letzten Winter,als ich es nach Wochen unter dem vielen Schnee erst suchen und mit der Schaufel ausgraben musste. Es war unser erster gemeinsamer Winter seit dem 9.9.09. An diesem Datum habe ich Dornröschen zugelassen. Die Chinesen verbinden mit der Zahl 9 unter anderem Langlebigkeit - keine schlechte Sache für ein Auto.
Zuvor habe ich zehn Jahre lang Carsharing genutzt. Die Buchung per Internet klappte reibungslos, ich musste mich um fast nichts kümmern. Doch im Lauf der Jahre wurden die Autos immer kleiner. Zuletzt passte höchstens noch ein Beautycase in den Kofferraum oder eine Schachtel Wein, keinesfalls aber eine normal große Kiste Wasser, wie ich sie in meinem Fahrradanhänger durchaus unterbringe. Außerdem fahre ich mit dem Auto öfter mal in den Bayerischen Wald, wo das Auto den ganzen Tag ungenutzt herumsteht, die teure Carsharingzeit aber trotzdem bezahlt werden muss. So ereilte mich der Wunsch nach einem eigenen Gefährt ausgerechnet im Jahr der Abwrackprämie. Leider hatte ich zuvor weder ein Altauto besessen, noch konnte oder wollte ich mein Fahrrad abwracken. Unabhängig von der Marktlage sollte eine Frau nie versuchen, allein ein Gebrauchtauto zu kaufen - es sei denn, sie liebt phantasievolle Geschichten über dessen Vorleben. Wundersamerweise ist die langjährige Vorbesitzerin des Gebrauchtfahrzeugs nämlich immer eine ältere Dame. Ich habe dieses Verkaufsargument nie verstanden. Was, wenn die ältere Dame einen höllischen Fahrstil hatte? Vielleicht drosch sie den Gang rein und jagte mit aufjaulendem Motor durch die Spielstraße, dass die Nachbarn nur so in ihre Hofeinfahrten zurück hechteten und um ihre Kinder bangen mussten? Ließ das Getriebe krachen, bis der ADAC kam, und gab stets Vollgas auf der Autobahn, aus purer Freude am Fahren? Misstrauisch machten mich auch Wagen mit französischem Scheckheft, dessen jungfräuliche Seiten sich über viele – inspektionslose? – Jahre ausschwieg. Regelmäßig gewartet wurde hingegen das Behördenfahrzeug, doch sein Preis war in etwa so utopisch wie sein Kilometerstand und grenzte an ein unmoralisches Angebot. So spannend die Autogeschichten auch klangen - meine Storys erfinde ich lieber selbst. Ein Verkaufsgespräch für ein Auto sollte dagegen frei von fiktionalen Elementen sein. Schließlich zog ich den Automechaniker meines Vertrauens zu Rate, der mich auf Dornröschen aufmerksam machte. Es entsprach nicht ganz meinen Vorstellungen: Allein das Stufenheck! Wer fährt schon ein Auto mit Stufenheck? Ich nicht. Bisher. Außerdem ist so ein Passat doch viel zu groß für mich, und sind hundert PS nicht ein bisschen übertrieben? Doch weiche Sitze umfingen mich sanft, der ruhige Lauf von Motor und Fahrwerk lullten mich ein. Ich entführte also Dornröschen zur Probefahrt auf die Hebebühne, um es auch von innen und unten zu betrachten. Der Automechaniker meines Vertrauens und sein Chef rieten mir zum Kauf. Inzwischen haben wir uns sehr aneinander gewöhnt. Nur seine Bremsscheiben geben protestierende Geräusche von sich, wenn sich nach zweiwöchigem Stillstand mal wieder Rost auf ihnen angesammelt hat. Dafür kam Dornröschen im Mai unverhofft zu einer großen Fahrt, und zwar ausgerechnet wegen eines isländischen Vulkans. Aus dem Flug nach Irland wurde eine spontane Fahrt durch die Schweiz und Italien, zusammen mit einer Freundin. Wir wechselten uns beim Fahren ab und rollten schließlich direkt vor der Touristeninformation eines hübschen ligurischen Küstenortes aus. Nach ein paar autofreien Tagen am Meer durfte Dornröschen auch seine Bergtauglichkeit beweisen. Trotz seines hohen Alters brachte es uns ohne Zwischenfälle wieder zurück. Nur im Kofferraum unter dem Ersatzrad fand ich neulich einen Goldfischteich. Leider ohne die Goldfische. Sollte dies das Wasser sein, das im Kühler fehlte? Ich zog den Stöpsel ab und ließ den Kofferraum trocknen. Der Mechaniker meines Vertrauens beruhigte mich: bei der Wahnsinnshitze könne schon einmal etwas Kühlflüssigkeit austreten, ich habe den richtigen Kühlerzusatz gewählt (vermutlich bin ich die einzige, die bei 40 Grad Frostschutzmittel kauft!) und das Leck im Kofferraum werde man in der Werkstatt schon finden.
Ansonsten erledige ich kleine Wartungs- und Pflegearbeiten selbst. Jedenfalls im Prinzip. Doch neulich an der Tankstelle standen mir drei Männer im Weg - wie Männer das halt manchmal so tun. Samt Motorrädern, von denen eines ziemlich zerlegt aussah, mit oberbayerischen Kennzeichen. Die Männer rauchten und tranken Kaffee aus Pappbechern, während ihr Kumpel ein Ersatzteil besorgte. Es sah nach einer längeren Brotzeitpause aus. Ob ich wohl Luft tanken könne? Kein Problem. Woraufhin mich einer der Drei zwischen das intakte und das halb zerlegte Motorrad lotste - gottlob traf Dornröschens Stufenheck elegant dazwischen. Und dann erbot sich einer der Männer, den Reifendruck zu prüfen. Der Luftschlauch reichte mühelos an alle vier Räder heran. Typisch, dachte ich. Drei Männer an der Tankstelle, und ich - die Frau - stelle mich tatsächlich daneben und schaue ihnen dabei zu, wie sie sich für mein Auto die Hände schmutzig machen. Doch vielleicht waren sie das nach dem Zerlegen des Motorrads ohnehin. Außerdem mussten die Männer sowieso warten und standen mir mit ihren Maschinen im Weg. Da war es doch das Mindeste, dass... oder? Egal. Ich genoss es. Danke, Ihr Drei von der Tankstelle!
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