3
Okt
2010

Meine Einheit

Ich war sechzehn, als die Mauer fiel. In den Jahren zuvor hatten meine Cousinen in der DDR und ich uns Briefe geschrieben. Unsere Themen waren vermutlich die gleichen, die Teenager in aller Welt beschäftigen: Musik, Jungs, Schule, Träume. Neugierig lasen wir vom Leben auf der jeweils anderen Seite der Mauer. Vom Schulfach Zivilverteidigung beispielsweise hatte ich noch nie etwas gehört, genauso wenig wie von einer ominösen Lieblingsspeise namens Broiler. In Sachen Mode und Musik waren meine gleichaltrigen Verwandten mir voraus. Sie lebten in der Stadt in Ostdeutschland und ich - hinterm Mond in Ostbayern. So kam es mir jedenfalls vor. Während die Sächsinnen von La Boom und Cinderella '87 schwärmten, musste ich entweder zu früh ins Bett oder konnte das Kino in der zwanzig Kilometer entfernten Kreisstadt nicht erreichen. Mein Tor zur Welt war die örtliche Gemeindebibliothek, kaum größer als ein gemütliches Wohnzimmer. Dort lieh ich Hermann van Veen - Kassetten und las, was mir in die Finger kam. Aber das ist eine andere Geschichte. Hingegen war ich bestens informiert über Waldsterben und Treibhausgase, und ich sorgte mich um die Ozonschicht.

Ich war politisch interessiert - doch die Mauer stellte ich nie in Frage. Von meiner zahlreichen Verwandtschaft hatte ich bisher nur meine Großonkel und -tanten im Ruhestand kennengelernt, weil diese reisen durften. Pakete mussten mit Inhaltsangaben versehen werden und durften nicht alles enthalten, manchmal gingen Waren "verloren" oder Briefe kamen geöffnet an. Die Mauer hatte Zeit meines Lebens existiert und mit ihr die seltsamen Vorschriften, die für den Kontakt mit "drüben" galten. Zu ungeheuerlich war die Vorstellung, sie könnte eines Tages einfach nicht mehr da sein. Als es dann passierte, habe ich geweint. Was für bewegende Momente: Hans-Dietrich Genscher auf dem Balkon der Deutschen Botschaft in Prag, später ratlose Grenzer, die ersten Trabis in West-Berlin. Jubelnde Menschen, ein Land im Freudentaumel. Nie war Deutschland vereinter als damals. Wie sehr ich es bedaure, dass ich nur am Fernsehbildschirm dabei sein konnte! Ich erinnere mich noch an den Brief, den mir meine Cousine nach ihrem ersten Ausflug in den Westen schrieb: Einer ihrer ersten Einkäufe war - ein Leckerbissen für die Katze.

Ein wenig später, als ich den Führerschein hatte, haben wir unsere ganz persönliche Wiedervereinigung gefeiert. Beim Überraschungsbesuch wurden meine Mutter und ich herzlich von Haus zu Haus gereicht, und ich geriet auf den achzigsten Geburtstag meines Großonkels, inmitten von Verwandten, die ich noch nie gesehen hatte. Ich blieb nüchtern und durfte einen grünen Lada nach Hause steuern - bis ich den Schaltknüppel in der Hand hielt. Mamas Cousine lachte herzlich und platzierte das Teil mit geübtem Griff wieder an seiner Stelle.

Seither hat sich die Welt verändert. Sicher könnte manches besser sein, doch ich baue auf die Menschen. Menschen, die jubeln, während sie ehemals tödliche Grenzen überschreiten, und Menschen, die zueinander kommen. Meine Einheit ist nicht politisch. Meine Einheit besteht aus lachenden Gesichtern und feuchten Augen, die in die Zukunft schauen.
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